Totgesagter Rezeptor erwacht zum Leben

„Chimäre“ lüftet das Geheimnis des schwarzen Schafs der Glutamatrezeptorfamilie

11.06.2009 - Deutschland

Eigentlich gehört der delta2-Rezeptor klar zur Familie der Glutamatrezeptoren, den wichtigsten Rezeptoren für Nervenbotenstoffe in unserem Gehirn. Bislang galt er aber als das „schwarze Schaf“ der Familie, denn er reagiert nicht auf Glutamat – wie es sich für einen Glutamatrezeptor per definitionem gehört. Dieses Rätsel faszinierte Neurowissenschaftler der Ruhr-Universität um Prof. Dr. Michael Hollmann (Lehrstuhl für Biochemie I – Rezeptorbiochemie). Um dem Rezeptor sein Geheimnis zu entlocken „kreuzten“ sie ihn mit einem anderen, normal funktionierenden Glutamatrezeptor. Ergebnis: Die Chimäre funktioniert normal und öffnet einen Ionenkanal. Jetzt gilt es, den Botenstoff zu finden, der den Mechanismus beim unveränderten delta2-Rezeptor auslöst.

Ruhr-Universität Bochum

Austausch der eigenen Erkennungsstelle des delta2-Rezeptors (rot) in schematischer Darstellung. Mit der Erkennungsstelle von einem anderen Glutamatrezeptor (blau) funktioniert die Übersetzung von chemischem in ein elektrisches Signal: Der tot geglaubte Ionenkanal erwacht zum Leben!

Rege Kommunikation zwischen Gehirnzellen

Unser Gehirn besteht aus einem gigantischen Netzwerk von rund 100 Milliarden Nervenzellen. Jede ist über etwa 10.000 Kontaktstellen mit anderen Nervenzellen vernetzt. Die universelle Sprache in diesem Netzwerk sind elektrische Reize, deren Summe auf noch völlig unverstandene Weise unsere Gedankenwelt entstehen lässt. Die meisten Kontakte zwischen Nervenzellen sind nicht direkt: Einige Millionstel Zentimeter trennen die Zellen. Diese Distanz muss überbrückt werden, soll ein Signal von Senderzelle zur Empfängerzelle gelangen. Dies geschieht an speziellen Kontaktstellen, den so genannten Synapsen, die mit Hilfe eines chemischen Botenstoffes, dem Neurotransmitter, ankommende Signale übertragen. Die erregte Senderzelle schüttet den Botenstoff aus, der daraufhin den Spalt durchquert und von der Empfängerzelle erkannt wird. Hier kommen die Glutamatrezeptoren ins Spiel. Sie sind darauf spezialisiert, den im Gehirn häufigsten Botenstoff Glutamat – den bekannten Geschmacksverstärker in chinesischen Gerichten – im synaptischen Spalt zu registrieren und daraufhin das chemische Signal in ein elektrisches umzuwandeln.

Übersetzer von chemischen in elektrische Signale

Das Geheimnis der Übersetzung von chemischen in elektrische Signale liegt in der Struktur der Rezeptoren. Sie bestehen aus drei wichtigen Teilen: einer Erkennungsstelle für Glutamat, einem Gelenk und einem Kanal. Die zweiklappige Erkennungsstelle an der äußeren Zelloberfläche nimmt Glutamat wahr, bindet es und schnappt daraufhin wie eine Mausefalle zu. Diese Schließbewegung wird über einen ausgeklügelten Gelenkmechanismus an den Kanal weitergeleitet, der die Zelloberfläche durchspannt, woraufhin dieser Kanal sich öffnet. Dadurch können außen angestaute positiv geladene Ionen in die Zelle einströmen und damit ein elektrisches Signal erzeugen.

Wichtige, aber geheimnisvolle Rolle

Auch der delta2-Rezeptor besitzt diese drei Teile. Warum aber wird er nicht durch Glutamat aktiviert? „Wir wissen, dass der delta2-Rezeptor an ganz spezifischer Stelle im Kleinhirn vorkommt, dass er eine extrem wichtige Rolle für die Feinkoordination der Motorik spielt, und dass er entscheidend zur richtigen Verschaltung der Nervenzellen in der Kleinhirnentwicklung beiträgt“, umreißt Prof. Hollmann die Fragestellung. „Was wir nicht genau wissen ist, wie der Rezeptor diese Funktionen erfüllt“. Die Forscher stellten sich daher die grundsätzliche Frage, ob der delta2-Rezeptor überhaupt in vergleichbarer Weise wie die anderen Glutamatrezeptoren funktionieren kann, nämlich als neurotransmitteraktivierter Ionenkanal.

Die griechische Mythologie hilft

Um diese Fragen zu beantworten, besannen sich die Forscher auf eine sehr alte Idee: sie stellten einen „chimären“ Rezeptor her. Die Chimäre ist ein Monster aus der griechischen Mythologie, das den Kopf eines Löwen, den Körper einer Ziege und den Schwanz einer Schlange besaß. Der künstliche, chimäre delta2-Rezeptor, den Sabine Schmid im Rahmen ihrer Doktorarbeit in der IGSN (International Graduate School of Neuroscience) konstruierte, besitzt das Gelenk und den Kanal des delta2-Rezeptors, aber die Erkennungsstelle für Glutamat aus einem seiner „normal“ funktionierenden Verwandten. Tatsächlich reagiert dieser „chimäre“ Rezeptor auf Glutamat und öffnet seinen bislang totgesagten Kanal: „Damit haben wir zum einen ein Werkzeug entwickelt, das uns zum ersten Mal erlaubt, die einzigartigen Eigenschaften des Gelenks und des Ionenkanals des delta2-Rezeptors zu untersuchen. Zum anderen legen unsere Ergebnisse nahe, dass das Geheimnis des delta2-Rezeptors in der Andersartigkeit seiner Erkennungsstelle für den Neurotransmitter liegt“, sagt Prof. Hollmann. Damit sind die RUB-Forscher der Funktion des „schwarzen Schafs“ ein wenig näher gerückt. Jetzt gilt es zu verstehen, auf welches Signal die eigene Erkennungsstelle im delta2-Rezeptor reagiert und welche Rolle das für seine essentielle Funktion im Kleinhirn spielt.

Originalveröffentlichung Schmid SM, Kott S, Sager C, Hülsken T, Hollmann M; „The glutamate receptor subunit delta2 is capable of gating its intrinsic ion channel as revealed by ligand binding domain transplantation“; Proceedings of the National Academy of Sciences 2009

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