TGN1412 - Neue Erkenntnisse helfen, das Scheitern der klinischen Studie im März 2006 in London besser zu verstehen
TGN1412 - auf diesem Wirkstoff ruhten große Hoffnungen. Ein erster Test an Menschen im März 2006 hatte jedoch schwere Folgen: Sechs gesunde Probanden waren innerhalb von wenigen Stunden erkrankt. Jetzt beschäftigt sich wieder die Grundlagenforschung mit so genannten CD28 superagonistischen Antikörpern, einer Substanzklasse, zu der auch TGN1412 zählt. Bisher noch unverstanden ist dieses Phänomen: Warum war unter anderem ein Teil der Immunzellen im Blut der Probanden kaum noch nachweisbar? Eine Erklärung liefern dafür jetzt erstmals aktuelle Forschungsergebnisse des Immunologen Prof. Dr. Holger Reichardt und seiner Mitarbeiter aus der Abteilung Zelluläre und Molekulare Immunologie der Universitätsmedizin Göttingen und dem Institut für Virologie und Immunbiologie der Universität Würzburg sowie Kollegen aus München.
In Versuchen mit dem Antikörper JJ316, dem rattenspezifischen Pendant für TGN1412, konnte das Göttinger Forscherteam zeigen: Der Antikörper löst sehr schnelle Effekte aus. Sie führen zu einer rasanten Umverteilung von Immunzellen. Diese verschwinden aus dem Blut und aus Organen wie der Leber und der Lunge. Dagegen sammeln sie sich in der Milz und den Lymphknoten an. Innerhalb von wenigen Minuten nach Gabe des Antikörpers können sich die Immunzellen kaum noch bewegen und auch die Milz und die Lymphknoten nicht mehr verlassen. "Unsere Studien belegen, dass Substanzen wie JJ316 in der Ratte und vermutlich TGN1412 im Menschen die Beweglichkeit von Immunzellen beeinträchtigen und die Wanderung im Körper behindern", sagt Prof. Reichardt, Leiter des Göttinger Forscherteams.
Ziel der Arbeiten war es zu überprüfen, ob die in der klinischen Studie beobachteten Auswirkungen von TGN1412 auch in den zuvor untersuchten Tiermodellen aufgetreten sein könnten. Dabei waren die Wirkungen des Antikörpers bei Menschen vor allem eines: Sehr schnell. Deshalb forschten Prof. Reichardt und sein Team gezielt danach, welche Prozesse der Antikörper in dem kurzfristigen Zeitfenster bis 24 Stunden auslöst.
"In unseren Arbeiten konnten wir zeigen, dass T-Zellen, eine spezifische Klasse von Immunzellen, innerhalb von nur vier Stunden nach Gabe des Rattenantikörpers kaum mehr im Blut nachzuweisen sind", sagt Prof. Reichardt. "Diese werden offensichtlich in ihrer Wanderung im Körper beeinflusst. Denn innerhalb kürzester Zeit findet man sie im Blut und in Organen wie der Leber und der Lunge fast nicht mehr. Hingegen sammeln sie sich in den Lymphknoten und der Milz an."
Dem erstaunlichen Ansammeln von Immunzellen in der Milz und in den Lymphknoten ist das Forscherteam mit Hilfe von Videomikroskopie in Zusammenarbeit mit Dr. Alexander Flügel am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried auf die Spur gekommen. Die Videomikroskopie macht es sichtbar: Innerhalb von zwei Minuten nach Infusion des Antikörpers kommt die Bewegung von T-Zellen quasi zum Stillstand. In der Folge bewegen sie sich für mehrere Stunden fast gar nicht mehr.
Warum sammeln sich Immunzellen in Milz und Lymphknoten an? Dies erklärt eine weitere Beobachtung der Göttinger Grundlagenforscher: Die Adhäsion der T-Zellen war im Tiermodell erhöht. So blieben die Zellen in den Organen quasi hängen. Darüber hinaus hindert die Behandlung mit JJ316 die T-Zellen daran, auf Signale zu reagieren, die ihre Wanderung im Körper steuern.
Normaler-weise wandern Immunzellen nach einer bestimmten Zeit des Aufenthaltes wieder aus den Lymphknoten aus und folgen dabei dem Signal einer Substanz aus dem Blut. Die T-Zellen im Tiermodell sind dazu nicht mehr in der Lage. Deshalb können sie die Lymphknoten nicht verlassen. Für die schweren Nebenwirkungen, welche die sechs Menschen erlitten, die an der klinischen Studie in London teilgenommen haben, ist jedoch vor allem ein anderes Phänomen verantwortlich. In deren Blut fanden sich große Mengen an Mediatoren, so genannte "Zytokine". Die Göttinger Forscher konnten zeigen, dass Immunzellen auch im Tiermodell dazu angeregt werden, solche Mediatoren zu produzieren. Sie werden aber nicht ins Blut freigesetzt.
"Ganz offenbar gibt es im Hinblick auf den Regulationsmechanismus einen Unterschied zwischen Ratte und Mensch", sagt Prof. Reichardt. Das abschließende Ergebnis der Göttinger Forscher: Die beschriebenen Effekte auf die Immunzellen treten sehr rasch nach Infusion des Antikörpers auf. Sie sind zeitlich begrenzt und verschwinden innerhalb von 24 bis 48 Stunden wieder. Erst danach kommt es zu der eigentlich gewünschten positiven Wirkung des Antikörpers: der Vermehrung von "regulatorischen T-Zellen". Sie sollten helfen, Krankheiten wie die Multiple Sklerose, Rheuma und Blutkrebs zu behandeln.
Originalveröffentlichung: Nora Müller, Jens van den Brandt, Francesca Odoardi, Denise Tischner, Judith Herath, Alexander Flügel und Holger M. Reichardt; "A CD28 superagonistic antibody elicits 2 functionally distinct waves of T cell activation in rats"; The Journal of Clinical Investigation 2008.
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Themenwelt Antikörper
Antikörper sind spezialisierte Moleküle unseres Immunsystems, die gezielt Krankheitserreger oder körperfremde Substanzen erkennen und neutralisieren können. Die Antikörperforschung in Biotech und Pharma hat dieses natürliche Abwehrpotenzial erkannt und arbeitet intensiv daran, es therapeutisch nutzbar zu machen. Von monoklonalen Antikörpern, die gegen Krebs oder Autoimmunerkrankungen eingesetzt werden, bis hin zu Antikörper-Drug-Konjugaten, die Medikamente gezielt zu Krankheitszellen transportieren – die Möglichkeiten sind enorm.
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