Mechanismen der Großhirnfaltung aufgeklärt
Claus Hilgetag, Professor für Neurowissenschaften an der IUB, und seiner Kollegin Helen Barbas, Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Boston University, gelang es, eine der ältesten Fragen der Hirnforschung zu beantworten: Wie entstehen die charakteristischen Windungen der Großhirnrinde von Primaten? In ihrer Studie untersuchten die beiden Wissenschaftler die Struktur der gefalteten Primaten-Großhirnrinde sowie die Dichte und den Verlauf von Verbindungen zwischen verschiedenen Hirnregionen. Ihre neuen Einsichten basieren auf Claus Hilgetags Analyse umfangreicher quantitativer neuroanatomischer Daten, die während der vergangenen zwei Jahrzehnte im Labor von Helen Barbas erhoben wurden. Mit der Studie liegen erstmals systematische empirische Belege für die Hypothese vor, dass die charakteristische Faltung von Primatengehirnen vor allem durch mechanische Kräfte erzeugt wird. Diese Kräfte kommen durch Faserspannung zustande, welche von Nervenverbindungen zwischen unterschiedlichen Arealen der Hirnoberfläche ausgeübt wird. Gehirnregionen, die durch viele Nervenfasern miteinander verbunden sind, werden während der embryonalen und frühkindlichen Entwicklung des Gehirns zueinander gezogen und wölben sich zu Hügeln auf. Furchen entstehen dagegen in den weniger stark vernetzten Regionen zwischen den Hügeln, in welchen eine geringere Faserspannung herrscht.
Außerdem konnten die beiden Wissenschaftler demonstrieren, dass die Faltenbildung des Gehirns Einfluss auf die gesamte weitere Entwicklung der Gehirnarchitektur hat. So wird beispielsweise Nervenzellen bei ihrer Wanderung in verschiedene Hirnregionen während der vorgeburtlichen Entwicklung des Gehirns ein Reibungswiderstand entgegen gesetzt. Diese mechanischen Kräfte werden von der Art der lokalen Faltung beeinflusst, was wiederum Einfluss auf die Anzahl von Zellen und die Dicke der Großhirnrinde in den Hügeln und Furchen der Gehirn-Landschaft hat.
Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass pathologische Veränderungen in Lage und Gestalt von Gehirnwindungen, wie sie etwa bei Schizophrenie oder Autismus auftreten, durch Störungen während der Entwicklung der Nervenverbindungen zustande kommen. "Der von uns belegte Zusammenhang zwischen dem Layout von Nervenfasern und den charakteristischen Windungen der Großhirnrinde eröffnet neue, auf einfachen physikalischen Prinzipien beruhende Ansätze zum Verständnis der normalen und gestörten Entwicklung des Gehirns", kommentierte der IUB-Wissenschaftler Claus Hilgetag die Ergebnisse der Studie.
Originalveröffentlichung: "Role of Mechanical Factors in the Morphology of the Primate Cerebral Cortex"; PLoS Computational Biology 2006, Volume 2, Issue 3.
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