Gleichtakt als Schlüssel zur Intelligenz

Forschungsteam ahmt wichtige Funktionsprinzipien des Gehirns technisch nach

04.07.2016 - Deutschland

Wie erfasst, verarbeitet und speichert das menschliche Gehirn den ständig einwirkenden Datenstrom? Wie bewältigt es kognitive Aufgaben, die eine komplexe Interaktion zwischen verschiedenen Hirnarealen erfordern und die viel schneller arbeitende Hochleistungsrechner überfordern? Warum kann das Gehirn dies alles mit einem extrem geringen Energieaufwand bewältigen? Diese beeindruckende Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns technisch nachzuvollziehen und seine Arbeitsweise in künstlichen neuronalen Netzwerken umzusetzen, ist das Ziel eines Kieler Forschungsteams um Professor Hermann Kohlstedt, Leiter des Fachbereichs Nanoelektronik an der Technischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und Sprecher des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten überregionalen Verbundforschungsprojekts „Memristive Bauelemente für neuronale Systeme“ (FOR 2093). Den Kieler Wissenschaftlern ist es nun gelungen, zwei grundlegende Arbeitsprinzipien des menschlichen Gehirns, Gedächtnis und Synchronisation, elektronisch nachzubilden.

Christian Urban, Universität Kiel

Wie in einem neuronalen Netzwerk beginnen die verbundenen Oszillatoren miteinander zu kommunizieren…

Christian Urban, Universität Kiel

…und synchronisieren sich nach einer Weile, bis sie wie echte Neuronen alle im gleichen Takt schwingen.

Christian Urban, Universität Kiel
Christian Urban, Universität Kiel

Das menschliche Gehirn ist ein Meister der Energieeffizienz. Seine rund 100 Milliarden Nervenzellen, auch Neuronen genannt, kommen mit einer Leistung von nur rund 20 Watt aus. Um ähnlich komplexe Rechenoperationen durchzuführen, wie sie das Gehirn bewältigt, benötigen moderne Hochleistungsrechner das Vieltausendfache an Energie. Die Neuronen des Gehirns sind durch Synapsen miteinander verknüpft und bilden ein hochkomplexes Netzwerk. Unter dem Begriff „Lernen“ im neurologischen Sinne versteht man, dass die synaptischen Verbindungen im Gehirn nicht statisch festgelegt sind. Stattdessen passen sie sich ständig auf Grund von Umwelteinflüssen, zum Beispiel Sinneseindrücken, neu an. Damit wird eine lokale Speicherung neuer Gedächtnisinhalte möglich, man spricht von der neurologischen Plastizität des Gehirns.

Neben dieser räumlichen Anpassungsfähigkeit neuronaler Verbindungen existiert ein weiterer wichtiger Baustein für die Informationsverarbeitung im Gehirn: die Synchronisation von Neuronenverbänden. Elektrische Impulse, sogenannte Aktionspotenziale, bilden die Grundeinheit der Informationsverarbeitung im Gehirn. Diese Impulse übermitteln permanent Informationen zwischen den Neuronen, dabei überqueren und beeinflussen sie die synaptischen Verbindungen des Gehirns. „Im Falle von bewussten Sinneswahrnehmungen verändert sich das räumlich unregelmäßige Auftreten von neuronalen Impulsen plötzlich und zeitlich begrenzt hin zu geordneten Strukturen“, sagt Professor Thorsten Bartsch, Neurologe an der CAU und Mitglied in der Forschungsgruppe. Die zuvor unabhängigen Impulse der Neuronen synchronisieren sich in diesem Fall selbst über weit entfernte Hirnbereiche hinweg. Dieses synchronisierte „Feuern“ lässt sich auch am lebendigen Menschen mittels Hirnstrommessungen (Elektroenzephalografie, EEG) nachweisen. „Schon seit langem wird diskutiert, ob das menschliche Bewusstsein eng mit dieser Synchronisation der neuronalen Impulse verknüpft ist. Möglicherweise liegt darin der Schlüssel zum besseren Verständnis der Gehirnfunktionen“, so Bartsch weiter.

Die Kieler Wissenschaftlern haben nun diese beiden Prinzipien der Arbeitsweise des Gehirns, also die Speicherung von Gedächtnisinhalten in den Synapsen und die Synchronität der neuronalen Impulse innerhalb eines elektronischen Schaltkreises nachgebildet. „Dabei haben wir neuartige elektronische Bauelemente verwendet, mit deren Hilfe sich Gedächtnisprozesse nachbilden lassen“, erklärt Kohlstedt. Diese Bauelemente werden als Memristoren (von englisch „memory“ für Gedächtnis und „resistor“ für Widerstand) bezeichnet. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass ihr elektrischer Widerstand von der zuvor geflossenen Ladung abhängt. „Auf diesem Weg lassen sich analog zu den ‚Gedächtniselementen‘ in biologischen Netzwerken unterschiedliche Zustände abspeichern“, ergänzt Dr. Martin Ziegler, Wissenschaftler im Fachbereich Nanoelektronik und Teilprojektleiter in der Forschungsgruppe.

In ihrer elektronischen Schaltung koppelten die Kieler Forschenden nun zwei Oszillatoren miteinander über Memristoren. Oszillatoren sind Schaltungen, die periodische Spannungsimpulse erzeugen – analog zum „Feuern“ der Neuronen im Gehirn. Anfangs verliefen ihre Impulse asynchron, die beiden Oszillatoren waren also zunächst entkoppelt. Dank der adaptiven „Gedächtniselemente“ synchronisierten sich ihre Schwingungen jedoch nach kurzer Zeit. Die Forschenden konnten so eine elektrische Schaltung mit denselben grundlegenden Eigenschaften ausstatten, die auch ein biologisches neuronales Netzwerk kennzeichnen. Die nun vorliegende Publikation bildet ein erstes Etappenziel für das aus rund zwanzig Wissenschaftlern aus der Physik, Elektrotechnik, Materialwissenschaft und Medizin bestehende Verbundforschungsprojekt FOR 2093.

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