Leben und Sterben der Beta-Zellen
Diabetes ist eine der Geisseln der heutigen Menschheit. Die Krankheit verzeichnet jedes Jahr steigende Zahlen. Weltweit sind heute über 380 Millionen Menschen daran erkrankt. Im Jahr 2030 sollen gemäss Schätzungen der International Diabetes Federation über eine halbe Milliarde Menschen an Diabetes Typ 2 leiden. In der Schweiz sind heute über 430.000 Menschen an Diabetes erkrankt, 40.000 davon an Typ 1.
Diabetes 1 und 2 gemeinsam ist die Tatsache, dass die Insulin produzierenden Beta-Zellen, die auf der Bauchspeicheldrüse sitzen, absterben und damit dieses wichtige Signalmolekül nicht mehr produziert wird. Insulin ist nötig, damit Zellen den Zucker aus dem Blut aufnehmen und ihrem Stoffwechsel diesen Brennstoff zuführen können.
Mikro-RNA steuert Zelltod
Was das Absterben der Beta-Zellen auslöst oder steuert, ist bis anhin ungeklärt. Nun haben aber Forscherinnen und Forscher aus der Gruppe von Markus Stoffel, Professor am Institut für Molekulare Gesundheitswissenschaften der ETH Zürich, neue Mechanismen entdeckt, weshalb die Insulin produzierenden Zellen zugrunde gehen: Ihr Tod wird durch die Produktion einer übermässigen Menge von kurzen Ribonukleinsäure-Stücken ausgelöst. Diese kleinen RNA-Schnipsel sind der Forschung als Mikro-RNA (miR) 200 bekannt.
Die Forschenden fanden heraus, dass die Bildung von miR-200 in den Beta-Zellen von diabetischen Mäusen stark erhöht ist, also ein Überschuss vorliegt. Anhand eines Mausmodells konnten sie aufzeigen, dass sie durch die forcierte Bildung von miR-200 die Beta-Zellen rasch zum Absterben bringen können, was auch für die Tiere tödlich endet.
Andererseits konnten die Biologinnen und Biologen ebenfalls anhand eines Mausmodells aufzeigen, dass das Blockieren von miR-200 das Überleben der Beta-Zellen sichert, selbst wenn die Zellen unter hohem Stress stehen. Eine Stresssituation für die Zellen etwa ist, wenn die Mäuse schlechte Blutfettwerte aufwiesen oder das Endoplasmatische Reticulum, die Bildungsstätte von Insulin, unter Stress stand.
«Diese Beobachtungen sind äusserst aufschlussreich und interessant)», sagt Markus Stoffel. Sie würden zeigen, dass miR-200 eine wichtige Rolle beim Überleben dieses unerlässlichen Zelltyps spiele. miR-200 könne offenbar den programmierten Zelltod, die so genannte Apoptose, bei Beta-Zellen herbeiführen.
Beta-Zellen brennen aus
Bei der Entstehung von Diabetes nehmen die Beta-Zellen eine wichtige Rolle ein. Ein Vorläufer von Diabetes ist die Insulin-Resistenz. Bei Übergewichtigen etwa reagieren beispielsweise Muskelzellen nicht mehr oder nur ungenügend auf das Signalmolekül Insulin, das die Beta-Zellen produzieren und ausschütten. Die Beta-Zellen beginnen deshalb, sich zu teilen und zu wachsen, um die Insulinproduktion zu verstärken. Die auf Hochtouren arbeitenden Beta-Zellen sind aber irgendwann erschöpft. Sie sterben ab. Dem Körper fehlt Insulin, Diabetes bricht aus.
«Das passiert bis zu einem gewissen Grad auch bei Schwangeren, doch nach Ende der Schwangerschaft ist der Vorgang der Zellteilung und verstärkten Insulinausschüttung umkehrbar», sagt Stoffel. Bei Fettleibigen, die überdies auch schlechte Blutfettwerte haben, was die Beta-Zellen ebenfalls stresst, ist der Prozess nicht umkehrbar.
Triade von Mikro-RNAs
Die Forschungsgruppe von Markus Stoffel hat in der jüngeren Vergangenheit schon mehrere Mikro-RNAs identifiziert, die mit dem Leben und Funktionieren von Beta-Zellen in Zusammenhang stehen und damit mit Diabetes. «Es zeichnet sich ab, dass es mehrere Mikro-RNAs gibt, die auf Beta-Zellen einwirken und unterschiedliche Aufgaben in der Stressbewältigung wahrnehmen.»
Eine der gefundenen miRs ist wichtig, wenn sich die Beta-Zellen zur Kompensation eines erhöhten Insulinbedarfs vermehren müssen. Fehlt dieses RNA-Stück, teilen sich die Zellen nicht / ungenügend. Eine weitere Mikro-RNA-Familie reguliert, wieviel Insulin erzeugt und ausgeschüttet wird. «Die dritte Familie, die mir-200, ist nun für Leben und Sterben der Beta-Zellen verantwortlich», fasst der ETH-Professor zusammen.
Die kurzen RNA-Sequenzen haben ein hohes therapeutisches Potenzial. Man kann sie mit einem Gegenstück, das genau auf die Sequenz passt, ausschalten. Antagomir nennt Stoffel diese. Solche Antagomire werden bereits in klinischen Test der Phase 2 gegen Hepatitis C untersucht. Das Antagomir von miR-122 verhindert die Vermehrung des Hepatitis-C-Virus'. Wie und ob Antagomire auch gegen schädliche «Diabetes-Mikro-RNAs» genutzt werden könnten, ist bisher nicht genügend untersucht.
Wichtige Regulationsebene
Mikro-RNAs sind Teil eines komplexen hierarchischen Regulationsnetzwerks, in dem verschiedene Ebenen zusammenspielen. Bestimmte Moleküle, die Transkriptionsfaktoren, regulieren die Gentätigkeit auf Ebene der DNA, indem sie beispielsweise ein Gen blockieren. Dadurch kann von ihm keine Abschrift gemacht werden. Auf der Ebene dieser Abschriften, Boten-RNA genannt, wirken die Mikro-RNAs – sie verhindern die Übersetzung der Boten-RNA in ein Protein.
«Das Fine Tuning, für das die Mikro-RNAs zuständig sind, wurde lange unterschätzt», sagt Stoffel. Kleine Änderungen in der Genregulation hätten enorme Auswirkungen auf das Verhalten der Zelle. Die kurzen RNA-Schnipsel würden die Zellantwort auf Stress dämpfen, damit diese nicht ausufert. «Mikro-RNAs kontrollieren also auch Krisensituationen», so der Forscher.
Die Regulation von Zellprozessen durch Mikro-RNAs ist ein uraltes System, das in der Stammesgeschichte erhalten geblieben ist. Der Mensch hat rund 21.000 Gene, von denen 700 bis 1000 Mikro-RNAs kodieren. 300 dieser Gene kommen in allen höheren Lebewesen vom Wurm bis zum Menschen vor.