Genetische Komfortzone: Umwelteinflüsse steuern Genexpression
Michael Bernkopf/Vetmeduni Vienna
Nicht alles, was in der DNA geschrieben steht, hat auch zwingend Auswirkungen auf den Organismus. Das ist spätestens seit der Erforschung der Epigenetik bekannt. Epigenetische Faktoren bestimmen nämlich mit, ob und wie aktiv Gene überhaupt sind. Ein weniger bekannter Mechanismus ist die Kanalisierung. Er macht Lebewesen robust gegenüber genetischen Mutationen und Umweltfaktoren. Treten während der Entwicklung eines Organismus Störungen auf, wie beispielsweise extreme Lebensbedingungen oder Mutationen im Genom, bewirkt die Kanalisierung eine Pufferung dieser Störungen – der Organismus bleibt stabil und entwickelt sich ohne äußerlich erkennbare Veränderung weiter.
Komfortzone im Fliegengenom gefunden
Christian Schlötterer vom Institut für Populationsgenetik hat den Mechanismus der Kanalisation gemeinsam mit seinen Kollegen an Fruchtfliegen untersucht. Das Team setzte dazu zwei genetisch unterschiedliche Fruchtfliegenstämme, Oregon und Samarkand, verschiedenen Temperaturen (13°C, 18°C, 23°C und 29°C) aus. Die WissenschafterInnen analysierten, wie sich die Genexpression aufgrund der unterschiedlichen Temperaturen in den Tieren verändert. Es stellte sich heraus, dass bei einer Temperatur von 18 Grad Celsius das Genexpressionsmuster der beiden Fliegenstämmen homogen war. Egal, ob bei Oregon oder Samarkand: Die Ausprägung der Gene ist über beide Stämme hinweg annähernd gleich.
„Bei 18 Grad Celsius dürfte die genetische Komfortzone der Fliegen liegen. Bei höheren oder niedrigeren Temperaturen verändert sich die Genexpression beider Fliegenstämme drastisch“, erklärt Schlötterer.
Pufferung des Genotyps
Der Effekt der Kanalisierung wurde bereits 1942 beschrieben. Forscher wiesen damals darauf hin, dass Organismen trotz veränderter äußerer Bedingungen oder genetische Mutationen in ihrer äußeren Erscheinung unverändert bleiben. Diese Art der entwicklungsbiologischen Pufferung stabilisiert die Entwicklung von Organismen.
„Entwickelt sich ein Organismus entlang des Kanalisierungspfades, also entlang der Komfortzone, können sich Mutationen zwar ansammeln, sie werden äußerlich jedoch nicht sichtbar. Wird der Kanalisierungspfad verlassen, treten diese ‚maskierten‘ Mutationen zutage. Es kommt zur Dekanalisierung. Dabei befinden sich Organismen außerhalb der Kanalisierung“, erklärt Schlötterer.
Dekanalisierung als Ursache komplexer genetischer Erkrankungen
In einer Publikation im Fachjournal Nature stellte der amerikanische Wissenschafter Greg Gibson sogar die Theorie auf, dass Krankheiten wie Diabetes, Asthma, Depression und Herz-Kreislauferkrankungen Folgeerscheinungen der genetischen Dekanalisierung seien. Er beschreibt, dass Migration, Ernährungsweise, Rauchen, Luftverschmutzung und psychologischer Stress zur Dekanalisierung führen und so bestimmte komplexe genetische Krankheiten verursachen.
„Die genetische Information alleine entscheidet also nicht, ob wir gesund oder krank werden. Es sind Umweltbedingungen und die Genetik, die in einem komplexen Zusammenspiel wirken“, so Schlötterer.