Von biologischen Haarnadeln und Polymer-Spaghetti

Wie starre Polymernetze weich und fließfähig werden

13.10.2014 - Deutschland

Wenn ein eigentlich festes Material weich wird, liegt die Vermutung nahe, dass es irgendwie beschädigt ist. Das trifft nicht immer zu, wie Jülicher und niederländische Forscher nun in der Fachzeitschrift Nature Communications berichten. Die Wissenschaftler haben starre biologische Netzwerke aus fadenförmigen Polymerbauteilen untersucht, die wie ein Haufen Spaghetti verschlungen sind. Geraten diese sogenannten Filamentfäden ins Fließen, formen sie sich zu haarnadelähnlichen Gebilden um, die fast berührungslos geordnet aneinander vorbeigleiten. Der Mechanismus könnte unter anderem bei der Suche nach erneuerbaren Alternativen für ölbasierte Polymere hilfreich sein.

Unsere Zellen enthalten Filamente aus sogenannten Biopolymeren. An ihnen lassen sich aktive Bewegungen beobachten, die durch molekulare Motorproteine hervorgerufen werden. Da die entsprechenden Filamente weder vollflexibel noch völlig steif sind, bezeichnet man sie als „semiflexible“ Polymere. Wird die Scherrate – ein Maß für den Geschwindigkeitsgradienten oder auch: Geschwindigkeitsunterschiede – innerhalb einer im Fluss befindlichen Lösung aus semiflexiblen Polymeren erhöht, nimmt ihre Fließfähigkeit auf einmal stark zu. Das Fließverhalten von Ketchup ist ein bekanntes Beispiel für diese „Scherverdünnung“.

Prof. Pavlik Lettinga vom Forschungszentrum Jülich und Prof. Gijsje Koenderink vom AMOLF konnten gemeinsam erstmals die vollständige dreidimensionale Form von Filamenten im Fluss beobachten und so eine Vielzahl bisher nicht zugänglicher Informationen über dieses Phänomen gewinnen. Die beiden Arbeitsgruppen stellten fest, dass die Filamente im Ruhezustand unregelmäßig geformt und stark ineinander verschlungen sind, während sie im Fluss eine gebogene Form einnehmen. In dieser Gestalt, die an Haarnadeln erinnert, lösen sich die Polymerfäden voneinander. So können sie frei aneinander vorbei gleiten, ohne sich zu verhaken und ineinander zu verknäueln – die Fließfähigkeit verbessert sich.

„Nun verstehen wir besser, warum viele Systeme fließen können, wenn man sie stört, während sie fest sind, wenn man es nicht tut“, betont Prof. Pavlik Lettinga vom Jülicher Institute of Complex Systems. „In der Industrie werden heute überwiegend flexible Polymere genutzt, aber mit steigendem Ölpreis nimmt das Interesse an Alternativen zu. Viele natürliche Systeme, wie Zellulose und Amyloide, sind relativ steif. Ein besseres Verständnis davon, wie solche Systeme sich verhalten, kann eine effizientere Verarbeitung unter geringerem Energieeinsatz ermöglichen. Mit diesem Wissen lassen sich außerdem Bottom-up-Ansätze für das Design ganz unterschiedlicher Produkte entwickeln.“

Die Wissenschaftler hatten sich vorgenommen, winzige Biopolymerfilamente eines Netzwerks aus Muskelzellen zu untersuchen, während sie in Fluss versetzt werden. Dazu markierten sie einzelne Filamente mit einem Fluoreszenzfarbstoff und beobachteten sie anschließend in einer gegenläufig rotierenden Vorrichtung unter einem Konfokalmikroskop.

“Unsere Erkenntnisse helfen auch dabei, bestimmte biologische Prozesse zu verstehen, wie den sogenannten Zytoplasmischen Fluss“, sagt Prof. Gijsje Koenderink von AMOLF. „Er kommt in vielen embryonalen Stadien und in großen Pflanzenzellen vor. So genannte Aktinfilamente oder Mikrotubuli erzeugen dabei gemeinsam mit molekularen Motorproteinen Bewegungen, die beim Transport von Nährstoffen und Zellbestandteilen, etwa Organellen, helfen. Unsere Ergebnisse geben einen Einblick in die winzigen Strukturänderungen, die bei solchen Bewegungen in biologischen Systemen passieren.“

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