Sekunden entscheiden über Immuntoleranz

07.10.2014 - Schweiz

Unser Immunsystem muss zwischen Selbst und Fremd unterscheiden, um Infektionen bekämpfen zu können, ohne gleichzeitig auch die körpereigenen Zellen zu schädigen. Das Immunsystem verhält sich gegenüber den Körperzellen loyal, doch wie dies geschieht, ist nicht vollständig verstanden. Forscher des Departements Biomedizin von Universitätsspital und Universität Basel haben entdeckt, dass das Immunsystem einen molekularen biologischen Zeitmesser nutzt, um intolerante T-Zellen während ihrer Entwicklung auszusondern. Die neuen Erkenntnisse wurden in der Fachzeitschrift «Cell» veröffentlicht.

University of Basel

Eine molekulare Uhr bestimmt die Loyalität jeder sich entwickelnden T-Zelle: A: Bindet eine sich entwickelnde T-Zelle für eine kurze Zeit (unter 4 Sekunden) an ein körpereigenes Molekül bindet, ist die Zelle gegenüber dem Körper loyal und wird zu einer T-Zelle reifen, die Krankheitserreger bekämpft. B: Bindet die Zelle für eine längere Zeit (über 4 Sekunden) an ein körpereigenes Molekül, wird der Zelltod ausgelöst. Auf diese Weise werden aggressive autoimmune T-Zellen aus dem Immunsystem eliminiert.

Ein funktionierendes Immunsystem verhält sich gegenüber dem körpereigenen Gewebe tolerant. Zeigen Immunzellen während ihrer Reifung eine starke Reaktion gegen köpereigene Substanzen, werden sie sofort angegriffen und eliminiert. Wie dies geschieht, ist ein fundamentales Thema der Immunologieforschung. Überleben intolerante T-Zellen irrtümlicherweise die Selektion, kann das zu einer Autoimmunkrankheit wie multipler Sklerose, Diabetes oder rheumatoider Arthritis führen.

Selbsttoleranz beruht auf negativer Selektion

Aufschluss darüber, wie sich immunologische Selbsttoleranz entwickelt, liefert nun ein Artikel in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins «Cell», der von der Forschungsgruppe um den Immunologen Prof. Ed Palmer und den Erstautor Ondrej Stepanek vom Departement Biomedizin des Universitätsspitals und der Universität Basel zusammen mit Forschenden aus Cambridge (USA) und Cardiff (UK) veröffentlicht wurde.

Während ihrer Entwicklung durchlaufen die T-Zellen in der Thymusdrüse verschiedene Tests, bei denen die Antigenrezeptoren der T-Zelle an körpereigene Moleküle binden müssen. Fällt diese Bindung zu stark aus, könnte eine reifende T-Zelle schliesslich eine Autoimmunkrankheit hervorrufen. In diesen Fällen wird eine negative Selektion ausgelöst, und die Zelle stirbt ab. Den Reifungsprozess setzen nur T-Zellen fort, die sich gegenüber dem eigenen Körper loyal zeigen. Sie werden positiv selektiert und werden später fremde Erreger bekämpfen.

Verweilzeit liefert entscheidenden Hinweis

Die negative Selektion von heranreifenden T-Zellen ist für das Funktionieren des Immunsystems unerlässlich. In der aktuellen Studie beschreiben die Autoren den Mechanismus, der diese Auswahl steuert. Auf Grundlage eigener Experimente entwickelten sie ein mathematisches Modell, das die molekularen Vorgänge hinter der negativen Selektion beschreibt. Im Mittelpunkt steht dabei die Verweilzeit, während der eine reifende T-Zelle an ein Körpermolekül bindet. Sie wird über einen molekularbiologischen Chronometer gemessen. Beträgt sie über vier Sekunden, wird die heranwachsende T-Zelle durch den programmierten Zelltod eliminiert. Bei Verweilzeiten unter vier Sekunden werden die Zellen weiterentwickelt, denn sie haben die Loyalitätsprüfung bestanden.

«Diese Frage hat mich seit langer Zeit fasziniert», sagt Palmer, der die Resultate dieser Studie als Früchte seiner rund 35-jährigen Forschungsarbeit auf diesem Gebiet betrachtet. «Die Immuntoleranz wurde vor mehr als 60 Jahren entdeckt», erklärt der Immunologe. «Auch wenn es danach aussieht, dass wir dem Verständnis eines wesentlichen Teils der Toleranz einen grossen Schritt näher gerückt sind, so bleibt doch manches, das wir noch nicht wissen, etwa wie das Immunsystem Fehler ausgleicht, die bei der negativer Selektion geschehen sind.»

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