Die Ära der Cyborgs hat begonnen
Verknüpfung von technischen Systemen mit Organismen birgt Potenzial besonders für medizinische Anwendungen
KIT/S. Giselbrecht, R. Meyer, B. Rapp
Sie sind aus Science-Fiction-Romanen und -Filmen bekannt – technisch veränderte Lebewesen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, sogenannte Cyborgs. Die Bezeichnung leitet sich von englisch „cybernetic organism“ (kybernetischer Organismus) ab. Tatsächlich sind Cyborgs als Verknüpfungen technischer Systeme mit lebendigen Organismen bereits Wirklichkeit, vor allem durch implantierte medizinische Systeme, wie die KIT-Forscher Professor Christof M. Niemeyer und Dr. Stefan Giselbrecht vom Institut für Biologische Grenzflächen 1 (IBG 1) sowie Dr. Bastian E. Rapp vom Institut für Mikrostrukturtechnologie (IMT) in ihrem Artikel erläutern.
Medizinische Implantate haben in den vergangenen Jahren beeindruckende Fortschritte gemacht. Möglich wurde dies durch intelligente Materialien, die selbstständig auf sich verändernde Bedingungen reagieren, computergestütztes Design und Fertigung aufgrund von Magnetresonanztomografie-Datensätzen sowie Oberflächenmodifikationen, die eine verbesserte Gewebeintegration gewährleisten. Eine besondere Rolle für eine erfolgreiche Gewebeintegration und die Vermeidung von Entzündungsreaktionen spielen spezielle Oberflächenbeschichtungen, wie sie auch am KIT entwickelt werden, etwa im Rahmen des multidisziplinären Helmholtz-Programms „BioGrenzflächen“.
Fortschritte in der Mikroelektronik und der Halbleitertechnologie haben elektronische Implantate ermöglicht, die Funktionen des menschlichen Körpers kontrollieren, wiederherstellen oder verbessern, wie Herzschrittmacher, Netzhautimplantate, Hörimplantate oder Implantate für die Hirn-Tiefenstimulation zur Schmerzbehandlung oder zur Parkinson-Therapie. Gegenwärtig verschmelzen Entwicklungen der Bioelektronik und der Robotik, um hochkomplexe Neuroprothesen zu ermöglichen. Wissenschaftler arbeiten dazu an Gehirn-Maschine-Schnittstellen (brain-machine interfaces – BMI) zur direkten physikalischen Kontaktierung des Gehirns. BMIs dienen unter anderem dazu, Prothesen zu steuern und komplexe Bewegungen wie beispielsweise Greifen zu ermöglichen. Darüber hinaus sind sie wichtige Werkzeuge für die Neurowissenschaften, da sie Einblicke in die Funktionsweise des Gehirns ermöglichen. Zusätzlich zu elektrischen Signalen lassen sich auch Substanzen, die zeitlich und räumlich kontrolliert aus implantierten mikro- und nanofluidischen Systemen freigesetzt werden, zur Kommunikation zwischen technischen Systemen und Organismen verwenden.
BMIs werden meist als Datenlieferanten betrachtet. Grundsätzlich lassen sie sich aber auch dazu nutzen, Signale in das Gehirn einzuspeisen – ein ethisch hochkontroverses Thema. „Implantierte BMIs, die Signale in Nerven, Muskeln oder direkt ins Gehirn einspeisen, sind bereits im alltäglichen Gebrauch, etwa in Herzschrittmachern oder Implantaten für die Hirn-Tiefenstimulation“, erklärt Professor Christof M. Niemeyer vom KIT. „Aber diese Signale sind weder dazu gedacht noch dazu geeignet, einen gesamten Organismus zu kontrollieren – die Gehirne der meisten lebenden Organismen sind dazu zu komplex.“
Bei niederen Organismen wie Insekten sind die Gehirne deutlich weniger komplex, sodass eine Signaleinkopplung mitunter direkt ein bestimmtes Bewegungsprogramm wie Laufen oder Fliegen auslösen kann. Die sogenannten Biobots, beispielsweise große Insekten mit implantierten elektronischen und mikrofluidischen Kontrolleinheiten, werden zur Entwicklung einer neuen Generation von Werkzeugen eingesetzt, etwa kleiner flugfähiger Objekte für Überwachungs- und Rettungsmissionen. Darüber hinaus dienen sie als Modellsysteme in den Neurowissenschaften, um grundlegende Zusammenhänge zu verstehen.
Elektrisch aktive medizinische Implantate, die über längere Zeit im Einsatz sind, müssen zuverlässig mit Energie versorgt werden. Derzeit arbeiten Wissenschaftler an Methoden, um dazu die körpereigene thermische, kinetische, elektrische oder chemische Energie des Patienten zu nutzen. – Zusammenfassend stellen die KIT-Forscher fest, dass die Entwicklungen zur Kopplung von technischen Systemen mit Organismen ein faszinierendes Potenzial bergen und gerade in der Medizin die Lebensqualität vieler Menschen erheblich verbessern können, dass bei ihrer Nutzung aber stets ethische und soziale Aspekte zu berücksichtigen sind.