Das medizinische Erbe von Eisbär Knut
Steven Seet/IZW
Nach Knuts Tod hatte die umfangreichste je in der Veterinärmedizin für ein einzelnes Tier vorgenommene Untersuchung begonnen. Dabei kamen modernste pathologische Techniken und genetische Entschlüsselungsmethoden zum Einsatz. So tragisch der Tod des Eisbären war, letzten Endes wurden dadurch neue wissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse eröffnet, die für die Forschung von großer Relevanz sind und wegweisend für das Krankheits-Management von Zootieren. Es wurde eine Forschungs-„Pipeline“ entwickelt, um bei Krankheitsausbrüchen bei Zoo- und Wildtieren frühzeitig die Erreger zu identifizieren.
Tiere aus der ganzen Welt zu beherbergen ist eine wichtige Aufgabe von Zoos, um gefährdete Arten zu erhalten und ihren Bildungsauftrag zu erfüllen. Wenn die Tiere an Krankheiten sterben, kommen als Ursache viele Erreger infrage. Die Tiere sind nämlich nicht nur den Erregern ausgesetzt, die in der Gegend des Zoos verbreitet sind, sondern auch denen, die in anderen Zootieren vorkommen. Die Herausforderungen für die Diagnose sind daher enorm.
Bei Eisbär Knut bündelten mehrere Forschergruppen ihre Kompetenzen, um der Todesursache auf den Grund zu gehen: das IZW, das Friedrich-Löffler-Institut auf der Insel Riems, das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, die Freie Universität Berlin, die University of California in San Francisco und viele andere. Klassische medizinische Methoden wurden mit Hochdurchsatz-Sequenzierung kombiniert, um die jemals umfangreichste und vollständigste Auswertung einer Todesursache eines Zootieres durchzuführen.
Die Nekroskopie – das ist die Obduktion eines Tierkadavers – führte Dr. Claudia Szentiks am IZW durch. „Die Ergebnisse zeigen eindeutig, dass die Anfälle von Knut durch eine Enzephalitis ausgelöst worden sind, höchstwahrscheinlich verursacht durch Viren“, erklärt die leitende Pathologin.
Enzephalitis kann durch verschiedene Viren, Bakterien oder Parasiten ausgelöst werden. Neue Erreger in Wildtieren zu identifizieren ist eine riesige Herausforderung, die oft gar nicht zur meistern ist. Bei Knut hat das Forscherteam die DNA-Sequenzen mehrerer Zehnmillionen Erreger überprüft. Prof. Alex Greenwood, Leiter der IZW-Abteilung Wildtierkrankheiten, sagt: „Die schiere Anzahl der Experimente und deren Auswertungen durch viele der führenden Diagnostik-Gruppen in Deutschland und weltweit haben extrem viel Zeit gekostet, sie haben uns aber auch Erkenntnisse darüber geliefert, was wir mit den neuesten Technologien leisten können und was nicht. Viele neue Richtungen für Verbesserungen und Entwicklungen werden sich daraus ergeben.“
Obwohl er vielfach verdächtigt wurde, ist das Pferde-Herpesvirus nicht schuld an Knuts Tod. Dieses Virus ist in anderen Eisbären in deutschen und anderen Zoos gefunden worden, aber nicht bei Knut. Die Analyse von Knut deckte eine neue Gruppe von Retroviren in Bären auf, die allerdings nicht zu seinem Tod geführt haben. Der einzige Erreger, dem Knut anscheinend ausgesetzt war, war ein Influenza-A-Virus – entsprechende Antikörper befanden sich im Blut. Es ist aber relativ unwahrscheinlich, dass die Grippe für Knuts Tod verantwortlich war, da das Virus nicht in seinem Gehirn entdeckt wurde. Prof. Klaus Osterrieder, Direktor des Instituts für Virologie am Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin, bemerkt: „Nach so viel harter Arbeit erscheinen die Resultate letztendlich ernüchternd. Wir können das Influenza-Virus nicht für den Tod von Knut verantwortlich machen.“
Während es im letzten Jahrzehnt große Fortschritte in der Diagnostik in Human- und Veterinärmedizin gab, zeigen die Ergebnisse, dass Wildtierkrankheiten immer noch einzigartige Herausforderungen darstellen: Es gibt viel mehr, was die Wissenschaftler darüber nicht wissen, als was sie wissen. Es gab im Laufe der Untersuchungen auch unerwartete Erkenntnisse. So stellte sich heraus, dass ein Herpesvirus, das eigentlich Zebras befällt, für Eisbären tödlich sein kann. Im Wuppertaler Zoo infizierten sich Knuts Vater Lars, der dies überlebte, und seine Partnerin Jerka, die daran starb. Dieses überraschende Resultat war Ausgangspunkt für ein neues Forschungsprojekt zur Übertragung von Herpesviren auf gefährdete Zootiere, an dem die Zoos beteiligt sind. Prof. Heribert Hofer, IZW-Direktor, kommentiert: „Es wäre unmöglich gewesen, alle fraglichen Ursachen zu überprüfen, hätten uns nicht so viele Zoos unterstützt, indem sie uns großzügig mit Vergleichsproben verschiedener Tiere versorgt haben, die sie umsichtigerweise für Vergleichszwecke aufbewahrt hatten. Das ist und war vorbildlich. Auch wenn es Knut nicht mehr hilft, so können wir doch mit dem Wissen über die Pferde-Herpesviren als Ursache von Enzephalitis bei Eisbären neue Management-Strategien entwickeln, um deren Auftreten zu minimieren.“
Originalveröffentlichung
Szentiks CA et al.; (2013): Polar bear encephalitis: Establishment of a comprehensive next-generation pathogen analysis pipeline for captive and free-living wildlife. Journal of Comparative Pathology.
Mayer J, Tsangaras K, Heeger F, Avila-Arcos M, Stenglein MD, Chen W, Sun W, Mazzoni CJ, Osterrieder N, Greenwood AD (2013): A novel endogenous betaretrovirus group characterized from polar bears (Ursus maritimus) and giant pandas (Ailuropoda melanoleuca). Virology 443, 1-10.
Greenwood AD, Tsangaras K, Ho SYW, Szentiks CA, Nikolin VM, Ma G, Damiani A, East ML, Lawrenz A, Hofer H, Osterrieder N (2012): A potentially fatal mix of herpes in zoos. Current Biology 22, 1727-1731.