Hirnschäden mit virtueller Realität therapieren

Projekt des Bielefelder Exzellenzclusters CITEC entwickelt medizinische 3D-Trainingsumgebung

08.07.2013 - Deutschland

Nach vier Jahren endete nun das Projekt CITmed des Exzellenzclusters CITEC der Universität Bielefeld. Ziel des Projekts war es, eine Trainingsmöglichkeit für Menschen zu entwickeln, deren Gedächtnis, räumliche Orientierung oder visuelle Wahrnehmung durch einen Hirnschaden gestört sind. Das CITEC-Forschungsteam setzte dabei auf virtuelle Realität, um kognitive Fähigkeiten der Patienten wieder aufzubauen. Es entwickelte die 3D-Trainingsumgebung „OctaVis“, mit der sich Alltagssituationen simulieren und trainieren lassen. Die Wissenschaftler testeten, wie stark sich Patienten in einer alltagsnahen Supermarkt-Simulation verbesserten. Das Ergebnis: Nach acht Tagen Training konnten die Patienten sich nicht nur mehr Produkte merken und fanden sich besser in dem virtuellen Supermarkt zurecht, sie verbesserten auch ihre grundsätzlichen räumlich-visuellen Leistungen.

Universität Bielefeld

Das System „OctaVis“, entwickelt am Exzellenzcluster CITEC, versetzt seinen Nutzer in einen virtuellen Supermarkt, um in dieser Umgebung kognitive Fähigkeiten zu trainieren.

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Prof. Dr. Mario Botsch leitet das Projekt „CITmed“.

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„Wenn einzelne Hirnareale geschädigt sind, können deren Aufgaben von anderen Teilen des Gehirns übernommen werden. Diese Teile des Gehirns müssen die neuen Aufgaben aber erst lernen“, sagt Professor Dr. Mario Botsch, Leiter des CITmed-Projekts. In vielen Rehabilitationsprogrammen werden mentale Fähigkeiten nur isoliert trainiert, weswegen die Trainingserfolge oftmals nur unzureichend in den Alltag übertragen werden können. „Das Training muss alltagsnäher sein, wie zum Beispiel unsere Supermarkt-Simulation. Dafür haben wir das OctaVis entwickelt“,sagt Botsch. CITmed steht für Cognitive Interaction Technology for Medicine (Kognitive Interaktionstechnologie in der Medizin) – es geht es um die Entwicklung eines intuitiv bedienbaren Systems für medizinische Anwendungen in der virtuellen Realität. Mitte Mai zeichnete die Forschungsgesellschaft Eurographics das Projekt mit dem dritten Platz des renommierten „Dirk Bartz Eurographics Medical Prize“ aus. Der Preis wird alle zwei Jahre zu Ehren von Dirk Bartz, einem Pionier der medizinischen Visualisierung, verliehen.

Das 3D-System OctaVis besteht aus einem Ring von acht hohen Monitoren, die den Nutzer umgeben. Auf den Bildschirmen sieht er die simulierte virtuelle Umgebung, im CITmed-Projekt also die Gänge und Regale eines Supermarktes. Er sitzt auf einem Drehstuhl und kann sich mit einem Steuerknüppel zur Seite und nach vorne bewegen, um dann per Berührung des Bildschirms den jeweiligen Artikel in seinen Warenkorb zu befördern. Auch der Drehstuhl ist mit den Bildschirmen gekoppelt. Will der Nutzer in eine andere Richtung, dreht er sich auf seinem Stuhl nach links oder rechts. Die initiale Idee für diese Konstruktion stammt von Professor Dr. York Winter, der bis 2009 an der Universität Bielefeld forschte und anschließend von der Humboldt Universität Berlin aus an dem Projekt mitarbeitete. „Das Gerät ist leicht zu bedienen“, sagt Botsch. Das sei wichtig, damit auch Nutzer, die nicht mit Computern vertraut sind, ohne Schwierigkeiten in die virtuelle Umgebung eintauchen können. „Unsere älteste Probandin war beim Test 94 Jahre alt. Sie hat die Aufgaben ohne Probleme gemeistert.“

2009 startete das Forschungsprojekt CITmed, gefördert durch das Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Spitzentechnologiewettbewerbs „HighTech.NRW“ und unterstützt durch den Exzellenzcluster CITEC. Verantwortet wird das interdisziplinäre Projekt von der Arbeitsgruppe „Computergrafik und Geometrieverarbeitung“ unter der Leitung von Professor Botsch. Ein Team aus Informatikern und Technikern war für die technische Entwicklung zuständig. Die klinischen Studien wurden von Psychologen unter der Leitung von Dr. Martina Piefke, mittlerweile Professorin an der Universität Witten-Herdecke, entwickelt und durchgeführt. Die Supermarkt-Simulation ist die erste Anwendung für das System. „Wir haben sie mit Personen getestet, bei denen ein Hirnfunktionsschaden diagnostiziert wurde, zum Beispiel durch einen Schlaganfall oder Epilepsie“, sagt Botsch. Dafür installierte das Forschungsteam das System im Evangelischen Krankenhaus der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, und zwar in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, der Klinik für Neurologie und im Epilepsie-Zentrum. Außerdem testete das Team das Gerät in der Marcus-Klinik in Bad Driburg.

„Wir haben als Anwendung das Supermarkt-Szenario gewählt, weil es alltagsnah ist und die Kombination mehrerer kognitiver Fähigkeiten erfordert und trainiert“, erklärt Mario Botsch. Für die Studie bekamen die Patienten die Aufgabe, bestimmte Lebensmittel in dem virtuellen 3D-Supermarkt einzukaufen. Dafür wurde ihnen eine Liste mit 20 Produkten vorgelesen. Die Testpersonen mussten sich die Liste merken, die Artikel im Supermarkt finden und in ihrem Warenkorb sammeln. „Ein wichtiger Erfolg für uns war, dass sich jeder Teilnehmer gut mit der Bedienung zurechtfand, obwohl es sich größtenteils um ältere Patienten ohne nennenswerte Computererfahrung handelte“, sagt Botsch. Jeder Patient wiederholte diese Aufgabe an acht Tagen, wobei am siebten Tag eine „Störliste“ mit ganz anderen Waren verwendet wurde. Am letzten Tag wurde wieder die Originalliste eingekauft, sie wurde aber im Gegensatz zu den vorherigen Tagen nicht mehr vorgelesen.

Das Forschungsteam erfasste, welche Artikel die Patienten kauften und auf welcher Route sie sich durch den Markt bewegten. Die Auswertung der Untersuchungsdaten zeigt: Im Laufe der Tage können sich die Patienten mehr Produkte merken als zu Beginn des Trainings. „Und diese Lernleistung ist erstaunlich stabil: Obwohl wir die Patienten am siebten Tag mit der Störliste abgelenkt haben, hatten sie am achten Tag, als sie aus dem Kopf die Waren der ursprüngliche Liste einkaufen sollten, davon noch einen Großteil im Gedächtnis“, sagt Botsch. Hinzu kommt, dass sich die Testpersonen im Lauf des Trainings zunehmend besser in der Supermarkt-Umgebung orientieren können. „Sie brauchten immer weniger Zeit, um die Waren einzusammeln, und sie mussten dafür auch weniger Strecke zurücklegen als zu Beginn des Trainings.“

Das Training sorgte aber nicht nur dafür, dass sich die Studienteilnehmer in dem simulierten Supermarkt verbessern. „Die räumlich-visuellen Leistungen haben sich bei vielen Patienten grundsätzlich verbessert“, sagt Mario Botsch. Die Probanden hatten vor und nach dem Training die Aufgabe, sich ein komplexes Bild einzuprägen und es aus dem Gedächtnis nachzuzeichnen. Bei diesem neuropsychologischen Standardtest verbesserten sich die Schlaganfall-Patienten signifikant um knapp ein Fünftel und die Epilepsie-Patienten um ein Sechstel.

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