Fibromyalgie: Erster Nachweis erbracht
Sie sind für die Wahrnehmung von Schmerzen verantwortlich und für das Temperaturempfinden: Sogenannte kleinkalibrige schmerzleitende Nervenfasern (small fibers), deren Endigungen in der Haut lokalisiert sind. Auf diese Fasern haben sich Wissenschaftler der Universität Würzburg konzentriert bei der Suche nach den Auslösern der typischen Schmerzen bei Fibromyalgie. Mit Erfolg: „Wir haben bei Patienten mit einem Fibromyalgie-Syndrom deutliche Zeichen für eine Schädigung der kleinen Nervenfasern nachgewiesen“, sagt Nurcan Üçeyler, Privatdozentin an der Neurologischen Klinik des Würzburger Universitätsklinikums.
Paradigmenwechsel: Organische Grundlage identifiziert
Diese Entdeckung läutet nach Üçeylers Worten „einen Paradigmenwechsel“ ein: Die Ergebnisse der Studie würden das bisherige pathophysiologische Konzept der Fibromyalgie herausfordern und seien deshalb von beträchtlicher Relevanz. „Mit dem Nachweis einer Beeinträchtigung der kleinen Nervenfasern bei Patienten mit Fibromyalgie erfüllt Schmerz bei dieser Krankheit nun die Kriterien von neuropathischen Schmerzen, also Schmerzen, die durch eine Schädigung oder Erkrankung des Nervensystems bedingt sind“, sagt Üçeyler. Darüber hinaus hätten Mediziner jetzt erstmals ein objektiv messbares Kriterium an der Hand, an dem sie sich bei der Diagnosestellung orientieren können.
Die Studie
35 Patienten haben Nurcan Üçeyler und Prof. Claudia Sommer in ihrer Studie untersucht. 25 von ihnen litten an einer Fibromyalgie, zehn waren an einer Depression erkrankt – einer Krankheit, die Fibromyalgiepatienten häufig zugeschrieben wird, da es bislang an Kriterien für eine verlässliche Diagnose fehlte. An Schmerzen litten diese zehn Patienten nicht. Dazu wurden passende Kontrollgruppen für jede Untersuchung rekrutiert.
Mit drei spezifischen Testverfahren haben die Medizinerinnen die Studienteilnehmer untersucht: Die quantitative sensorische Testung (QST) bestimmt unter anderem thermische Wahrnehmungs- und Schmerzschwellen der kleinen Nervenfasern. Die Ableitung Schmerz-assoziierter evozierter Potenziale (PREP) gibt Auskunft über die elektrische Erregbarkeit der Nervenfasern. Stanzproben aus der Haut ermöglichen die Analyse der Morphologie unter dem Mikroskop. „Diese drei Methoden sind somit objektive Verfahren, die sich bei der Beurteilung der kleinen Nervenfasern ergänzen und deren mehrdimensionale Analyse erlauben“, sagt Üçeyler.
Die Ergebnisse
Das Untersuchungsergebnis war eindeutig: „In allen drei Testverfahren fanden sich bei Patienten mit Fibromyalgie-Syndrom deutliche Zeichen für eine Schädigung der kleinen Nervenfasern“, erklärt die Medizinerin. Fibromyalgie-Patienten reagierten in der QST weniger empfindlich auf Temperaturreize. In den PREP-Ableitungen zeigten die Betroffenen schwächere Antworten auf die Schmerzreize. Und auch unter dem Mikroskop fanden die Wissenschaftlerinnen deutliche Veränderungen: „In der Hautstanzbiopsie war die Anzahl der kleinen Fasern deutlich reduziert – ein Befund, der typisch ist für Erkrankungen mit small-fiber-Beteiligung“, so Nurcan Üçeyler.
Besonders interessant für die Wissenschaftlerinnen war die Tatsache, dass sich Fibromyalgie-Patienten in den Untersuchungsergebnissen nicht nur von gesunden Studienteilnehmern unterschieden, sondern auch von den Patienten, die an einer Depression erkrankt waren, aber nicht unter Schmerzen litten – letztere zeigten ähnliche Ergebnisse wie Gesunde. Obwohl Fibromyalgie-Patienten ähnlich viele depressive Symptome aufwiesen wie die depressiven Studienteilnehmer, zeigten nur sie eine Beeinträchtigung ihrer kleinen Nervenfasern.
Für das Team um Nurcan Üçeyler und Claudia Sommer ist das Ergebnis dieser Studie klar: „Auch wenn noch nicht bekannt ist, warum es zu einer Schädigung der small fibers bei Fibromyalgie kommt, könnten unsere Ergebnisse die Grundlage für die Neudefinition des Fibromyalgie-Syndroms als Erkrankung schaffen.“
Das Fibromyalgie-Syndrom
Schätzungsweise zwei bis vier Prozent der erwachsenen Allgemeinbevölkerung westlicher Staaten leiden an einem Fibromyalgie-Syndrom. Das Fibromyalgie-Syndrom ist charakterisiert durch chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen; dazu kommen weitere Beschwerden wie Schlafstörungen, Tagesmüdigkeit und depressive Symptome. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Der Verlust an Lebensqualität ist enorm.
Die Diagnose wird anhand der typischen Beschwerdeschilderung der Patienten gestellt sowie nach Ausschluss von alternativen Diagnosen. Typischerweise lassen sich bei der Untersuchung von Patienten mit Fibromyalgie weder klinisch noch laborchemisch noch mittels apparativer Zusatzdiagnostik krankhafte Befunde nachweisen. Das ist auch der Grund, warum das Fibromyalgie-Syndrom bis heute noch nicht als „Krankheit“ anerkannt ist: Es fehlt der Nachweis des krankmachenden Auslösers beziehungsweise einer fassbaren Pathologie.
Jahrelange Odysee bis zur Diagnose
So kommt es, dass Fibromyalgie-Patienten in der Praxis häufig nicht ernst genommen werden und sich Bemerkungen wie „Fibromyalgie? Gibt es nicht.“ anhören müssen. Nicht selten werden sie auch mit der Aussage konfrontiert, dass ihre Beschwerden Ausdruck einer Depression sind. Tatsächlich zeigen Fibromyalgie-Patienten häufig auch depressive Symptome. Diese könnten jedoch genauso gut die Folge ihrer chronischen Schmerzen sein. Aufgrund dieser „Fehldiagnosen“ dauert es oft Jahre, bis eine Fibromyalgie diagnostiziert und die Symptome behandelt werden. Die lange Odyssee der Patienten ist oftmals frustrierend für Betroffene und Ärzte und verursacht zudem hohe Kosten für das Gesundheitssystem.