Diabetes: Wie Zucker zu Schmerzen führt
Wissenschaftler des Universitätsklinikums Heidelberg klären Entstehung der diabetischen Nervenerkrankung und zeigen neuen Behandlungsansatz
Methylglyoxal erhöht Reizbarkeit schmerzleitender Nervenzellen
Begleiterkrankungen des Diabetes mellitus wie Schäden an Blutgefäßen, Nerven, und Nieren lassen sich nur zum Teil durch einen erhöhten Blutzuckerspiegel oder die Dauer der Erkrankung erklären. Gerade die chronischen Schmerzen in den Beinen treten teilweise bereits auf, bevor der Diabetes bemerkt wird. In preisgekrönten Forschungsarbeiten der letzten Jahre zeigte die Heidelberger Arbeitsgruppe, dass auch aggressive Stoffwechselprodukte dazu beitragen: "Selbst bei Patienten, deren Blutzuckerspiegel gut eingestellt ist, oder schon vor Ausbruch der Erkrankung sammeln sich solche schädlichen Stoffe im Körper an", erklärt der Erstautor der Publikation, Dr. Thomas Fleming. Wissenschaftler von 16 Forschungseinrichtungen weltweit waren beteiligt an der Aufklärung des Mechanismus der diabetischen Nervenerkrankung (Neuropathie).
Das Stoffwechselprodukt Methylglyoxal (MG) entsteht im Blut durch den Abbau des Zuckers Glucose – zwar besonders bei hohem Blutzuckerspiegel, bei Diabetikern, aber auch unabhängig davon. Körperzellen schützen sich vor diesem giftigen Zerfallsprodukt mit Hilfe von Eiweißen (Glyoxalasen), die MG abbauen. „In vielen Nervenzellen sind diese Schutzeiweiße nur schwach aktiv. Bei Diabetikern ist ihre Aktivität noch weiter gedrosselt. Das macht speziell Nervenzellen empfindlich gegenüber Methylglyoxal“, erklärt Fleming.Die Wissenschaftler untersuchten daher, wie genau MG auf Nervenzellen wirkt, die für die Schmerzwahrnehmung zuständig sind.
Dazu nahmen sie bestimmte Proteine in der Zellhülle, sogenannte Natrium-Kanäle, unter die Lupe. Diese Proteine regulieren die Reizbarkeit der Nervenzellen. Sie entdeckten: MG bindet an einen Natrium-Kanal (NaV1.8), der nur bei Schmerzrezeptoren vorkommt, verändert seine Funktionsfähigkeit und macht so die Nervenzelle schneller erregbar. Diese Veränderung fanden sie sowohl im Nervengewebe von Mäusen, denen zuvor MG verabreicht worden war, als auch bei Tieren, die an einer dem Diabetes ähnlichen Erkrankung litten. Auch bei Nervenzellen von Diabetes-Patienten mit erhöhter Schmerzempfindlichkeit waren die Natrium-Kanäle durch MG beeinträchtigt.
Neuer Therapieansatz verspricht weniger Nebenwirkungen
Gesunde Mäuse, denen Methylglyoxal injiziert worden war, entwickelten ebenso wie Mäuse mit Diabetes eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit, messbar an der stärkeren Durchblutung schmerzverarbeitender Hirnareale. Bei beiden Gruppen von Versuchstieren ließen sich die Symptome mit Hilfe eines neuen Wirkstoffs lindern, der an MG bindet und es unschädlich macht. Ebenso wirksam war es, die körpereigenen Schutzproteine der Tiere verstärkt zu aktivieren.
„Die Ergebnisse zeigen erstmals, dass Methylglyoxal unmittelbar das gesteigerte Schmerzempfinden verursacht. Das macht es zu einem vielversprechenden Ansatzpunkt für die Behandlung dieses Nervenleidens“, so Professor Nawroth. Bisher gibt es keine zufriedenstellenden Therapien für diese Beschwerden: Verfügbare Medikamente wirken auf das Nervensystem ein und machen müde, lindern die Schmerzen aber nur bei einem Drittel der Patienten – um bis zu 30 Prozent. Der erhoffte therapeutische Erfolg des neuen Medikaments, das inzwischen patentiert ist, beruht auf dem völlig neuen Wirkmechanismus: Es richtet sich gegen das im Blut zirkulierendes Methylglyoxal und stoppt so die Prozesse, die die Schmerzen erst verursachen. „Wir gehen davon aus, das erste wirklich wirksame Medikament gegen diabetische Schmerzen gefunden zu haben“, so der Seniorautor des Artikels.