Genmutation führt zum Verlust zweier Sinne: Tastsinn und Hörsinn

03.05.2012 - Deutschland

Wer gut hört, kann auch gut tasten. Wer aber schlecht hört, hat auch einen schlechteren Tastsinn. Wie das zusammenhängt, haben jetzt Dr. Henning Frenzel und Prof. Gary R. Lewin vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) Berlin-Buch entdeckt. Sie konnten zeigen, dass beide Sinne eine gemeinsame genetische Basis haben. In Patienten mit Usher-Syndrom, einer erblichen Form der Schwerhörigkeit mit Sehbehinderung, entdeckten sie eine Genmutation, die ursächlich auch für den schlechteren Tastsinn der Betroffenen ist. Der Untersuchung waren verschiedene Studien, unter anderem mit ein- und zweieiigen gesunden Zwillingen vorausgegangen. Insgesamt hatten die Forscher 518 Freiwillige untersucht.

Hören und Tasten sind bei allen Wirbeltieren und damit auch beim Menschen zwei unterschiedliche Sinnessysteme. Bei beiden werden aber mechanische Reize in elektrische Signale umgewandelt. Beim Hören lösen die Schallwellen Schwingungen aus, die im Innenohr die Haarzellen verbiegen, die den mechanischen Reiz in elektrische Signale umsetzen. Sie gelangen über den Hörnerv in das Gehirn. Beim Tasten geschieht Ähnliches: Der mechanische Reiz – das Gleiten mit den Fingern über eine raue oder glatte Oberfläche, das Wahrnehmen von Vibrationen – wird über Sensoren in der Haut aufgenommen und in einen elektrischen Reiz übertragen und an das Gehirn weitergeleitet.

100 Zwillingspaare untersucht

In den vergangenen Jahren sind beim Menschen rund 70 Gene identifiziert worden, die Schwerhörigkeit (Taubheit) auslösen, wenn sie mutiert sind. „Seltsamerweise sind bisher keine Gene gefunden worden, die den Tastsinn beeinflussen“, sagte Prof. Lewin. Um zu sehen, ob es beim Tastsinn auch eine vererbbare Komponente gibt, untersuchten die Forscher zunächst 100 Zwillingspaare - 66 eineiige Zwillingspaare und 34 zweieiige Zwillingspaare. Eineiige Zwillinge sind genetisch völlig identisch, zweieiige Zwillinge haben eine 50 prozentige genetische Übereinstimmung. Die Tests zeigten, dass die unterschiedlichen Tastfähigkeiten der Probanden zu mehr als 50 Prozent durch Gene bestimmt wird. Weiter zeigten die Hör- und Tast-Tests, dass eine Verbindung zwischen Hörsinn und Tastsinn besteht.

Die Forscher vermuteten deshalb, dass Gene, die den Hörsinn beeinflussen, möglicherweise auch auf den Tastsinn Einfluss haben. Im nächsten Schritt gingen sie deshalb in eine Schule für Hörbehinderte in Berlin. Dort untersuchten sie die Tastfähigkeit von 39 Jugendlichen, die von Geburt an schwerhörig sind. Sie verglichen die dabei gewonnenen Erkenntnisse mit den Daten ihrer Zwillingsstudie und stellten fest, dass nicht alle hörbehinderten Jugendliche einen schlechteren Tastsinn hatten. „Doch bei auffällig vielen dieser Jugendlichen war der Tastsinn nur schwach ausgeprägt“, erläutert Prof. Lewin.

Da der Aufwand zu groß gewesen wäre, bei den jungen Hörbehinderten herauszufinden, welche der rund 70 Gene, die den Hörsinn beeinträchtigen, unter Umständen auch den Tastsinn verschlechtern, untersuchten die Forscher in einem weiteren Schritt Patienten mit Usher-Syndrom. Das ist eine vererbte Form der Schwerhörigkeit, bei der die Patienten im Laufe der Zeit zusätzlich erblinden. Die Erkrankung, bei der die Patienten unterschiedlich schwer hörbehindert sind, ist genetisch sehr gut untersucht. Hier spielen neun Gene eine Rolle, deren Mutationen die Erkrankung auslösen.

In einer Spezialsprechstunde der Charité – Universitätsmedizin untersuchten die Forscher Patienten mit Usher-Syndrom aus ganz Deutschland sowie Patienten in der Universitätsklinik La Fe in Valencia, Spanien, die in einer Gendatei erfasst waren. Die Untersuchungen ergaben, dass nicht alle Patienten mit Usher-Syndrom einen schlechteren Tastsinn haben. Die Forscher konnten zeigen, dass nur die Patienten mit Usher-Syndrom einen weniger empfindlichen Tastsinn haben, die eine Mutation in dem Gen USH2A aufweisen. Diese Mutation ist auch für die Schwerhörigkeit dieser 19 Patienten verantwortlich. Die 29 Usher-Syndrom-Patienten, bei denen diese Mutation nicht festgestellt werden konnte, können normal tasten. Die Forscher erbrachten damit den Nachweis, dass es eine gemeinsame genetische Basis für den Hör- und Tastsinn gibt. Sie vermuten, dass in Zukunft noch mehr Gene entdeckt werden, die diese beiden Sinne zugleich beeinflussen.

Frauen hören besser und sind feinfühliger als Männer

Und noch ein interessantes Detail fanden die Forscher in ihrer über fünf Jahre dauernden Studie heraus. „Wenn Frauen beklagen, dass ihre Männer ihnen nicht richtig (zu)hören, dann ist da in der Tat etwas dran“, sagt Prof. Lewin. „Die Untersuchungen mit insgesamt 518 Personen, darunter 295 Frauen, haben tatsächlich gezeigt, dass Frauen besser hören und feinfühliger als Männer sind.“

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