Warum betrunkene Bakterien Wissenschaftlern viel über molekulare Prozesse in der Zelle verraten
„Es ist mein Wunsch, das Leben von Bakterien so gut es eben geht zu erklären“, sagt Ulf Liebal. Der 30-jährige Biochemiker der Universität Rostock hat in Halle studiert und seine Diplomarbeit, über die Wirkstoffproduktion in Bakterien in Finnland geschrieben. Die Forschung im Labor sagt dem jungen Mann, der im Studentenorchester Fagott spielt, allerdings nicht so zu. Seiner Faszination, zu erfassen wie aus kleinsten Molekülen ein komplexer Organismus entsteht, tut das aber keinen Abbruch. Deshalb ist sein Metier die noch junge Disziplin der Systembiologie – der „Biochemie am Computer“ wie er sagt. Hier kombiniert er Methoden der experimentellen Biologie und der Bioinformatik mit mathematischen Modellierungsansätzen. So entsteht am Rechner ein Bild der Vorgänge innerhalb einer Zelle, der kleinsten biologischen Einheit, die sich selbst vermehren kann. Konkret erforscht Ulf Liebal, wie das im Boden lebende Bakterium Bazillus subtilis auf Stress reagiert, in diesem Falle, wenn es mit Alkohol in Berührung kommt. „Ich untersuche also betrunkene Bakterien“, beschreibt der junge Wissenschaftler seine Arbeit. Zwar wird im Laborversuch Alkohol bewusst eingesetzt, in der Natur allerdings gibt es mehrere Quellen, aus denen Alkohol entsteht und in den Boden sickert: beispielsweise faulende Früchte.
ITMZ Uni Rostock
„Viele denken bei Bakterien an Krankheitserreger, die wir mit anti-bakteriellen Reinigungsmitteln aus unseren Häusern vertreiben“, sagt Ulf Liebal. Das Bakterium, das er untersucht, ist überall in der Umwelt anzutreffen. Es lebt im Boden und hilft den Pflanzen beim Wachstum, ist also kein Krankheitserreger. Wie gedeiht es im Boden und wie reagiert es auf die Umwelt? Das will der junge Forscher herausfinden. Es ist bekannt, dass ein Bakterium nach einem Stresserlebnis seine Zusammensetzung ändert. Die Untersuchungen mit Alkohol nutzt der 30-Jährige, um mehr über die Verknüpfung von Stresserlebnis und Zusammensetzung des Bakterium erfahren. So gibt es einen Einblick, welche Prozesse Bakterien im Menschen auslösen können, womit sich auch neue Möglichkeiten zum Beispiel zur Behandlung von Lebensmittelvergiftungen ergeben.
Alkohol stresst Bakterien, weil er wichtige Proteine beschädigt. Deshalb hat sich das Bakterium einen eigenen Alkoholtest entwickelt. Dieser Testsensor besteht aus 60 Proteinen, die geometrisch und symmetrisch aufgebaut sind. „Das muss man sich in etwa wie einen Weihnachtsstern vorstellen“, sagt der Forscher. Er hat mit einem einfachen Papiermodell diesen Sensor nachgebaut. „Ich bin jetzt in der Lage, die Bewegungen des Proteins auf Tischmodellgröße nachzuempfinden“. So zeigt sich, dass es allgemeine Regeln für Bewegungen von geometrischen Strukturen gibt. Die sind vermutlich auch für den mikroskopisch kleinen Sensor in der Zelle gültig. Ulf Liebal gewinnt durch sein Modell einen besseren Einblick, wie das Bakterium auf Alkohol reagiert. Spürt eines von den 60 Proteinen Alkohol, dann bewegt sich das Protein und aktiviert damit andere in der Nachbarschaft. „So kann wenig Alkohol schon eine große Reaktion in der Zelle auslösen. Ein kleines Geheimnis ist damit gelüftet“, ist der junge Mann stolz. Für ihn sind Papier und Kreativität wichtiger geworden als teure Labore. Dennoch benutzt er Daten von Partner-Laboratorien, um seine Modelle an die Wirklichkeit anzupassen. Diese sind unentbehrlich, um die komplexen molekularen Anpassungsvorgänge vollständig zu erfassen. Um die biologischen Organismen in ihrer Gesamtheit jedoch besser verstehen zu können, arbeiten Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen interdisziplinär eng zusammen. Die experimentellen Untersuchungen erfordern zudem so komplexe, aufwendige und teure Laboreinrichtungen, dass ein einzelnes Labor dazu nicht in der Lage wäre. Die Gruppe um Professor Olaf Wolkenhauer in Rostock, zu der auch Ulf Liebal gehört, ist Teil einer großen internationalen Initiative, der sogenannten BaCell-SysMO, die sich zum Ziel gesetzt hat, das Bakterium nicht nur besser zu verstehen, sondern auch besser nutzen zu können. In Deutschland unterstützt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) neben den Wissenschaftlern in Rostock auch Forschergruppen in Greifswald, Göttingen, Erlangen, Braunschweig und Marburg. Im Ausland arbeiten Universitäten in Groningen, Manchester und Newcastle an den gleichen Zielen. „Vernetzung, um Vernetzung aufzuklären. Das ist Systembiologie“, sagt Professor Olaf Wolkenhauer.