Methusalem kontra Eintagsfliege: Max-Planck-Forscherin fordert Neudefinition des Alterns

Langlebige Arten entkommen dem Alterungsprozess nicht besser als kurzlebige

18.02.2011 - Deutschland

Weil manche Lebewesen lange leben, glaubte man bisher, dass sie körperlich kaum altern. Wie sollten sie sonst so lange dem Tod widerstanden haben? Diese Logik ist falsch, wie Annette Baudisch vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock jetzt mit biologischen Daten belegt. Tatsächlich bauen langlebige Arten teilweise viel stärker ab als andere Spezies, die früher sterben. Baudisch fordert darum eine neue Definition des Alterns mit zwei Dimensionen: Dem „Tempo“ des Alterns, das die Lebenserwartung widerspiegelt, und seiner „Form“, die besagt, wie die Überlebensfähigkeit des Körpers mit der Zeit ab- oder zunimmt.

Methusalem kontra Eintagsfliege

Körperlicher Verfall kontra Lebenserwartung?

Anhand von zehn Beispielarten beschreibt Annette Baudisch in der Fachzeitschrift »Methods in Ecology and Evolution«, wo das herkömmliche Konzept des Alterns scheitert: So hat der moderne Mensch unter den zehn Spezies die höchste Lebenserwartung (ab der Geschlechtsreife etwa 70 verbleibende Jahre) und das Rotkehlchen die niedrigste (1,7 verbleibende Jahre). Klassisch gesprochen altert der Vogel also viel stärker als der Mensch. Es zeigt sich aber, dass das Tier einen viel schwächeren körperlichen Verfall erlebt: Während das Rotkehlchen bis zum Tod besser fit bleibt als alle anderen Arten auf der Liste, führt der Mensch sie als „Vergreisungs-Meister“ an.

Menschen altern 1000-mal stärker als Rotkehlchen

Der Unterschied ist immens: “Moderne Menschen altern körperlich über 1000-mal stärker als Rotkehlchen”, sagt Annette Baudisch. Der Forscherin gelang es dies auszurechnen, indem sie der Form des Alterns einen mathematischen Wert gab: Je stärker die Mortalität, also das Risiko, in einem bestimmten Lebensjahr zu sterben, mit der Zeit steigt, desto steiler ist ihre Kurve – und somit die Form des Alterns. Bei Menschen steigt das Sterberisiko von der Geschlechtsreife bis zum Erreichen der Lebenserwartung um den Faktor 2000 – bei Rotkehlchen nur um den Faktor 1,2. Mit Baudischs neuer Definition fällt der Widerspruch zur Kurzlebigkeit der Vögel weg: Rotkehlchen altern zwar in hohem Tempo, weil ihr Leben kurz ist. Ihr Alterungsprozess hat aber die Form einer nur flach ansteigenden Kurve. Beim Menschen hingegen ist das Tempo zwar langsam, denn er lebt lang. Die Form entspricht jedoch einer Kurve, die steil in Richtung zunehmender Degeneration zeigt.

Dass Menschen trotzdem viel älter werden als Rotkehlchen, liegt daran, dass ihr Sterberisiko in jedem Alter viel niedriger ist. Doch ihr Körper verliert im Erwachsenenalter merklich die Fähigkeit, sich schnell genug zu regenerieren, um nicht abzubauen. Bei Rotkehlchen klappt die Instandhaltung wesentlich besser. Jedenfalls gut genug, um über ihr kurzes Leben hinweg nicht nennenswert an Überlebenschancen einzubüßen. Einige Arten verfügen über erstaunliche Regenerationskünste. So schafft es der mexikanische Schwanzlurch Axolotl, der sein Leben lang quasi in Babyform durchs Wasser schwimmt, Organe komplett nachwachsen zu lassen. Er kann auch sein Gehirn regenerieren, wenn nötig. Die Kalifornische Gopherschildkröte genießt ein bis zum Tod sinkendes Sterberisiko, wie vermutlich auch Alligatoren und Krokodile. Für Arten wie Rehe, Rothirsche oder Murmeltiere nimmt das Sterberisiko zumindest eine Zeit lang nach der Geschlechtsreife ab. Und einige Vögel wie der Höckerschwan, der Eissturmvogel, oder die Schleiereule können den Verfall in dieser Zeit immerhin auf Null halten.

Warum die Spezies so unterschiedlich leben und sterben, ist ein ungelöstes Rätsel der Wissenschaft. „Um das unsichtbare Gesetz des Alterns zu entdecken, müssen wir erklären, welche Rolle es in der Evolution der verschiedenen Arten spielt”, sagt Annette Baudisch. Die Biologin und Mathematikerin arbeitet an einer einheitlichen, evolutionären Theorie des Alterns. Der Grundgedanke: Wie ein Organismus altert, hängt damit zusammen, wie viel Energie er im Lauf des Lebens ins eigene Überleben steckt – durch Wachstum, Instandhaltung oder Reparatur des Körpers –, oder in die Arterhaltung durch Fortpflanzung. „Lebewesen, die sich wie der Mensch intensiv um ihren Nachwuchs kümmern, könnten Kandidaten für starke Vergreisung sein“, sagt Annette Baudisch. Denn die Energie, die sie in ihre Nachkommen investieren, fehlt zur Reparatur des körperlichen Verfalls.

Lernen als Mittel gegen den Tod?

„Dass das Sterberisiko mit dem Alter sinkt, könnte auch soziale Ursachen haben oder durch Lernerfolge bedingt sein“, sagt die MPIDR-Forscherin. So könnte es etwa sein, dass manche Tiere mit der Zeit ihre Überlebenschancen erhöhen, weil sie lernen, besser zu jagen oder Fressfeinden zu entgehen. Sicher ist der Einfluss des Wachstums, wie das Beispiel der Krokodile zeigt: Ihre Mortalität fällt mit dem Alter, weil sie nicht aufhören zu wachsen: Wenn sie vorher nicht von größeren Artgenossen gefressen wurden, werden sie selbst die Größten – und sind nicht mehr in Lebensgefahr.

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