Ein künstliches Bakterium hilft die Darmflora erklären

28.06.2010 - Schweiz

Mit Hilfe eines selber hergestellten Bakteriums haben Berner Forschende neue Erkenntnisse zum Darm-Immunsystem gewonnen. Dieses funktioniert mehrfach anders als erwartet.

Das Darm-Immunsystem ist in vieler Hinsicht besonders - es reagiert nicht nur auf Krankheitserreger, sondern hauptsächlich auf «friedfertige» Bakterien im Darm, also die gesunde Darmflora. Die Forschung geht davon aus, dass diese massive, aber nicht krankhafte Immun-Antwort für die gleichbleibende Balance zwischen Darmbakterien und Körper wichtig ist. Dank eines mikrobiologischen Kunstgriffs konnten nun die zugrundeliegenden Mechanismen dieses Zusammenspiels genauer erklärt werden. Dr. Siegfried Hapfelmeier, Prof. Andrew Macpherson und ihr Team von Wissenschaftlern von der Universitätsklinik für Viszerale Chirurgie und Medizin und vom Departement für Klinische Forschung der Universität Bern stellten ein Darmbakterium mit besonderen Eigenschaften her. Mit gezielten Mutationen im Stoffwechsel des gutartigen Darmbakteriums Escherichia coli K-12 erreichten die Forschenden, dass das Bakterium nur für einige Stunden den Darm besiedelt und rasch wieder aus dem Körper verschwindet. Die mutierten Keime rufen im Darm dieselbe Immun-Antwort hervor wie normale Darmbakterien, sind aber vermehrungsunfähig. Dies ermöglichte neuartige Experimente mit einer bakteriellen Darmbesiedelung, die aber im Gegensatz zu normalen lebenden Bakterien genau dosiert werden konnte und sich sozusagen selber wieder rückgängig macht.

Das Darmimmunsystem kann zählen und ist vergesslich

So konnte das Forschungsteam zeigen, dass das Darmimmunsystem gewissermaßen «zählen» kann: Die Anzahl Bakterien, die den Darm passiert, bestimmt die Stärke der Antikörper-Antwort. Dabei ist das Darm-Immunsystem weitgehend unbeeindruckt von wiederholten Bakterien-Besiedelungen - anders als bei einer erneuten Infektion mit einem Krankheitserreger. Maßgeblich für eine Immun-Antwort scheint allein die Endsumme der Bakterien zu sein. Ein weiteres Ergebnis: Das Darm-Immunsystem ist unter normalen Umständen relativ «vergesslich». Es reagiert zwar neben seiner andauernden «Beschäftigung» mit den bereits anwesenden normalen Darmbakterien auf den neuen Keim mit einer spezifischen Immun-Antwort. Diese wird aber nicht lange gespeichert, sondern geht nach dem Verschwinden des mutierten Bakteriums rasch wieder zurück. Die andauernde Stimulation durch die sich stetig verändernde normale Darmflora überschreibt sozusagen ständig die «Antikörper-Erinnerung» an das Vergangene. «Diese Arbeiten zeigen, dass der Darm ein ganz anderes Immunsystem oder genauer: immunologisches Gedächtnis hat als der restliche Körper», erklärt Siegfried Hapfelmeier. Dies könnte künftig auch die Entwicklung von Impfstoffen beeinflussen: Neuartige Schluckimpfungen mit lebenden Bakterien gegen Darmkrankheitserreger kamen oft nichtüber das Entwicklungsstadium hinaus – auch wenn (oder gerade weil) sie gut verträglich wären. Wie Hapfelmeier vermutet, erzeugen fremde, aber harmlose Bakterien im Darm keine sehr langlebigen Immun-Antworten und stimulieren kaum das immunologische Gedächtnis. «Künftige Impfstoffe müssten daher möglichst ähnlich einem Krankheitserreger beschaffen sein», so der Mikrobiologe.

Die Darmflora - die dichteste Bakterien-Ansammlung der Welt

Nirgendwo auf der Welt findet man eine dichtere Ansammlung von Bakterien als im Dickdarm. Kurz nach der Geburt wird jeder Mensch mit solch einer Darmflora, bestehend aus normalerweise gutartigen, gesundheitsfördernden Mikroorganismen, besiedelt und bleibt es ein Leben lang. Da die Darmschleimhaut auch eine wichtige Eintrittspforte für zahlreiche Krankheitserreger ist, sind entsprechend die meisten der Immunorgane und Immunzellen des Körpers in und am Magen-Darmtrakt konzentriert. Tagtäglich werden große Mengen Antikörper (Immunoglobulin A) in den Darm abgegeben, die aber größtenteils gegen die gesunde Darmflora gerichtet sind. Ein Team von Berner Forschenden um Prof. Andrew Macpherson erforscht diese komplexen immunologischen Vorgänge.

Originalveröffentlichung: Siegfried Hapfelmeier et al.; "Reversible Microbial Colonization of Germ-Free Mice Reveals the Dynamics of IgA Immune Responses"; Science, 24. Juni 2010, in print

Weitere News aus dem Ressort Wissenschaft

Meistgelesene News

Weitere News von unseren anderen Portalen

Alle FT-IR-Spektrometer Hersteller

Verwandte Inhalte finden Sie in den Themenwelten

Themenwelt Antikörper

Antikörper sind spezialisierte Moleküle unseres Immunsystems, die gezielt Krankheitserreger oder körperfremde Substanzen erkennen und neutralisieren können. Die Antikörperforschung in Biotech und Pharma hat dieses natürliche Abwehrpotenzial erkannt und arbeitet intensiv daran, es therapeutisch nutzbar zu machen. Von monoklonalen Antikörpern, die gegen Krebs oder Autoimmunerkrankungen eingesetzt werden, bis hin zu Antikörper-Drug-Konjugaten, die Medikamente gezielt zu Krankheitszellen transportieren – die Möglichkeiten sind enorm.

Themenwelt anzeigen
Themenwelt Antikörper

Themenwelt Antikörper

Antikörper sind spezialisierte Moleküle unseres Immunsystems, die gezielt Krankheitserreger oder körperfremde Substanzen erkennen und neutralisieren können. Die Antikörperforschung in Biotech und Pharma hat dieses natürliche Abwehrpotenzial erkannt und arbeitet intensiv daran, es therapeutisch nutzbar zu machen. Von monoklonalen Antikörpern, die gegen Krebs oder Autoimmunerkrankungen eingesetzt werden, bis hin zu Antikörper-Drug-Konjugaten, die Medikamente gezielt zu Krankheitszellen transportieren – die Möglichkeiten sind enorm.