Zeitreise zu den Ursprüngen der Stammzelle

Proteine zur Regulation tierischer Stammzellen sind offenbar viel älter als das Tierreich selbst

20.11.2024
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Symbolbild

Eine neue Studie zeigt, dass wichtige Proteine, die an der Regulation tierischer Stammzellen beteiligt sind, viel älter sind als bisher angenommen. Sie stammen aus der Zeit vor der Entstehung der Tiere vor mehr als 700 Millionen Jahren. Das internationale Forscherteam unter Beteiligung von Wissenschaftlern aus der Gruppe von Dr. Georg Hochberg am Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie in Deutschland wurde von Prof. Ralf Jauch von der Universität Hongkong und Dr. Alex de Mendoza von der Queen Mary University of London in Großbritannien geleitet.

Während die meisten Zellen Spezialisten sind und feste Aufgaben erfüllen, wie zum Beispiel Haut-, Nerven- oder Blutzellen, sind pluripotente Stammzellen in der Lage, sich selbst dauerhaft zu regenerieren und bei Bedarf in spezialisierte Zellen zu differenzieren. Beide Fähigkeiten, Selbsterneuerung und Differenzierung, werden durch Regulationsfaktoren streng kontrolliert.

Die Studie konzentrierte sich auf zwei Proteine, die für die Regulation von Stammzellen entscheidend sind: Die Transkriptionsfaktoren SOX und POU. SOX und POU spielen eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der "Stammzellfähigkeit" von Zellen und galten bisher als eine Innovation des Tierreichs.

Diese Ansicht konnte nun widerlegt werden. Mit Hilfe der molekularen Phylogenetik identifizierte das Forscherteam diese Proteine in Choanoflagellaten, die als nächste einzellige Verwandte der Tiere gelten und sich vor mehr als 700 Millionen Jahren vom tierischen Stammbaum abgespalten haben.

"Unsere Entdeckung ist so etwas wie das molekulare Gegenstück zur Ausgrabung eines Übergangsfossils und wirft Licht auf den rätselhaften Ursprung der Tiere", erklärt Dr. Mathias Girbig, Co-Erstautor der Studie und Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie.

Vom Stammbaum zum Funktionsnachweis

"Erstaunlicherweise stellten wir fest, dass Choanoflagellaten-SOX-Proteine bei Tests in Maus-Stammzellkulturen ihre Maus-Pendants funktionell ersetzen konnten und dabei die Fähigkeit besaßen, die komplexen genetischen Programme zu aktivieren, die für die Bildung von Stammzellen erforderlich sind", sagt Dr. Ya Gao, Postdoktorandin an der Universität Hongkong und Co-Erstautorin der Studie. Um die Evolutionsgeschichte dieser Proteine genauer zu untersuchen, setzten die Forscher eine Technik ein, die als Ancestral Sequence Reconstruction (Rekonstruktion der Gensequenz der Vorfahren) bezeichnet wird.

„Man stelle sich einen Stammbaum von Proteinen aus verschiedenen lebenden und ausgestorbenen Arten vor. Mit Hilfe ausgeklügelter Computeralgorithmen können wir diesen Stammbaum zurückverfolgen und vorhersagen, wie die Proteine unserer Vorfahren ausgesehen haben. Dann können wir diese alten Proteine herstellen und ihre biochemischen Eigenschaften im Labor untersuchen“, erklärt Mathias Girbig. "Mit anderen Worten: Diese Methode ist wie eine molekulare Zeitmaschine, mit der wir Proteinsequenzen längst ausgestorbener Vorfahren ableiten und durch ihre Rekonstruktion im Labor wieder zum Leben erwecken können.“

Bemerkenswert ist, dass diese rekonstruierten alten Proteine ebenso wie ihre bereits existierenden Gegenstücke die Reprogrammierung von Stammzellen in Mäusezellen auslösen können. Dies bestätigt, dass die molekularen Eigenschaften, die es den Sox-Proteinen ermöglichen, die „Stammzellfähigkeit“ zu induzieren, wirklich sehr alt sind und der Evolution der Tiere selbst vorausgehen.

„Wir waren verblüfft, als wir feststellten, dass die grundlegenden biochemischen Eigenschaften der SOX-Proteine, die für die Funktion von Stammzellen in Tieren unerlässlich sind, bereits in Einzellern vorhanden waren, die vor der Entwicklung der Tiere existierten. Diese Funktionserhaltung über mehr als 700 Millionen Jahre Evolution ist wirklich faszinierend - vor allem wenn man bedenkt, dass Choanoflagellaten keine Stammzellen besitzen“, sagt Mathias Girbig.

Bedeutung für das Verständnis der Evolution von Tieren

Dr. Georg Hochberg, Leiter der Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie, ergänzt: "Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Evolution tierischer Stammzellen eher auf der Umwidmung bereits vorhandener molekularer Werkzeuge beruht als auf der Erfindung völlig neuer Mechanismen.“

Interessanterweise zeigten die SOX-Proteine eine bemerkenswerte funktionelle Kontinuität, während anderen Transkriptionsfaktoren (POU-Proteine) aus einzelligen Organismen einige Schlüsseleigenschaften ihrer tierischen Gegenstücke fehlten. Dies deutet darauf hin, dass die Entstehung tierischer Stammzellen wahrscheinlich sowohl die Übernahme alter molekularer Funktionen als auch die Entwicklung neuer Protein-Protein-Interaktionen beinhaltete.

„Diese Studie unterstreicht, wie wichtig es ist, evolutionäre Analysen mit funktionellen Experimenten zu kombinieren, um den Ursprung komplexer biologischer Systeme zu verstehen“, kommentiert Prof. Dr. Ralf Jauch von der Universität Hongkong, der das Forschungsprojekt koordiniert und die stammzellbiologischen Arbeiten betreut hat.

Georg Hochberg ergänzt: „Die Forschungsarbeit bringt nicht nur unser Verständnis der Stammzellbiologie voran, sondern eröffnet auch neue Perspektiven für die Evolution der tierischen Vielzelligkeit - einer der wichtigsten Übergänge in der Geschichte des Lebens auf der Erde. Diese Erkenntnisse könnten weitreichende Auswirkungen auf Gebiete haben, die von der Entwicklungsbiologie bis zur regenerativen Medizin reichen.“

Originalveröffentlichung

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