Blutbildende Stammzellen: Warum werden schwangere Frauen nicht anämisch?
Die Studie zeigt, auf welche Weise die für die Blutbildung erforderlichen Gene im Körper bei Bedarf angeschaltet werden können. Zunächst werden die Retrotransposons aktiviert, sie sind Teil des Erbguts und können sich innerhalb eines Genoms frei bewegen. Die Retrotransposons aktivieren wiederum die blutbildenden Stammzellen, die daraufhin mit der Produktion der vermehrt benötigten roten Blutkörperchen im Knochenmark beginnen.
„Wir haben beobachtet, dass Retrotransposons die Stammzellaktivität steigern, indem sie die Immunabwehr aktivieren und eine sterile Entzündungsreaktion fördern“, erklärt Prof. Dr. Dr. Alpaslan Tasdogan, Leiter der Studie und Professor in der Klinik für Dermatologie am Universitätsklinikum Essen und Emmy Noether & ERC Starting Grant Fellow sowie Inhaber der Peter-Hans Hofschneider Stiftungsprofessur. Die Retrotransposons aktivieren zwei angeborene Immunsensoren, cGAS und STING, die für die Bildung des Signalmoleküls Interferon und Interferon regulierte Gene in den blutbildenden Stammzellen sorgen.
Die vermehrte Erzeugung roter Blutkörperchen ist beispielsweise während einer Schwangerschaft notwendig, um die Mutter und das Ungeborene mit ausreichend Sauerstoff versorgen zu können. Wenn die Aktivierung der Retrotransposons durch bestimmte Medikamente oder genetische Defekte unterdrückt wird, können die roten Blutkörperchen nicht in ausreichender Zahl produziert werden und es droht eine Anämie.
In enger Zusammenarbeit mit den Gynäkolog:innen der Universitätsmedizin Essen konnte das Team zeigen, dass das Schwangerschaftshormon Östrogen im Aktivierungsprozess eine wichtige Funktion hat. Die Forschenden haben die Wirkung von Östrogen auf die Aktivierung der Retrotransposons in nicht-schwangeren Mäusen untersucht. „Wir konnten zwar einen Aktivierungseffekt beobachten, er fiel jedoch schwächer aus als bei schwangeren Mäusen. Das deutet darauf hin, dass neben Östrogen noch weitere Faktoren an dem Aktivierungsprozess beteiligt sein müssen“, verdeutlicht Prof. Dr. Rainer Kimmig, Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Universitätsklinikum Essen.
Die Aktivierung der Retrotransposons ist auch während der Schwangerschaft beim Menschen von entscheidender Bedeutung. Wenn beispielsweise dauerhaft Medikamente zur Behandlung von Viruserkrankungen wie HIV eingenommen werden müssen, können die Retrotransposons nicht aktiviert werden und die verstärkte Blutbildung bleibt aus.
Die Forschenden streben an, in Kürze mit klinischen Studien zu beginnen, um die Versorgung schwangerer Frauen mit Vorerkrankungen zu optimieren. „Dabei ist das Ziel, neue oder verbesserte Behandlungs- und Versorgungsstrategien gegen die Anämie zu entwickeln“, sagt Prof. Dr. Dr. Alpaslan Tasdogan.
Originalveröffentlichung
Julia Phan, Brandon Chen, Zhiyu Zhao, Gabriele Allies, Antonella Iannaccone, Animesh Paul, Feyza Cansiz, Alberto Spina, Anna-Sophia Leven, Alexandra Gellhaus, Dirk Schadendorf, Rainer Kimmig, Marcel Mettlen, Alpaslan Tasdogan, Sean J. Morrison; "Retrotransposons are co-opted to activate hematopoietic stem cells and erythropoiesis"; Science, 2024-10-24