Rätsel um Proteine im Hirn gelöst

Erin Schuman erhält den mit einer Million Euro dotierten Körber-Preis

01.07.2024
Marcus Gloger/Körber-Stiftung

Erin Schuman, Körber-Preisträgerin 2024

Die amerikanische Hirnforscherin Erin Schuman ist eine Pionierin der Neurobiologie. Schumans Forschungen haben das Verständnis dafür revolutioniert, wie einzelne Nervenzellen – die Neuronen – funktionieren. Sie entdeckte, dass und wie die Proteine, die entscheidenden Bausteine der Zellen, lokal an den Verbindungsstellen zwischen den Neuronen hergestellt werden. Der von Schuman neu aufgedeckte Mechanismus der Proteinsynthese ist die Grundlage für die Kommunikation zwischen den Neuronen, der die Speicherung von Erinnerungen und die Entwicklung des Gehirns insgesamt ermöglicht. Aufbauend auf ihren Erkenntnissen will die Forscherin mit den Mitteln des Körber-Preises nun krankheitsbedingte Veränderungen der Proteine in den Neuronen untersuchen, um neue Behandlungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Proteine sind die wichtigsten Bestandteile aller Zellen. Im Gehirn bilden sie die Grundlage dafür, dass Milliarden von Neuronen miteinander kommunizieren können und sind auch dafür verantwortlich, dass Erinnerungen gespeichert werden und sich die Struktur des Gehirns entwickeln kann und veränderbar bleibt.

Bis zu Schumans Durchbruch stand man vor dem Rätsel, wie die Millionen benötigter Proteine produziert und an ihre Einsatzorte in den Neuronen verteilt werden. Neuronen sind besonders große Zellen, die über komplizierte Prozesse verfügen, durch die sie sich mit tausenden anderen Neuronen an speziellen Verbindungspunkten verknüpfen. Diese Verbindungspunkte zwischen den Neuronen werden Synapsen genannt. Schuman konnte nachweisen, dass Neuronen die Proteine direkt an den Synapsen herstellen – anstatt nur im Zellkörper, wie es lange angenommen wurde. Die Entdeckung dieses Mechanismus ist grundlegend, um Vorgänge im Gehirn wie Lernen oder Erinnern zu verstehen.

Störungen der Proteinlevels im Gehirn sind eine wesentliche Ursache für Hirnerkrankungen wie der Huntington-Krankheit oder dem Fragile-X-Syndrom. „Obwohl die Forschung hier noch am Anfang steht, wissen wir, dass eine gestörte Zusammensetzung von Proteinen in den Neuronen zu schwerwiegenden Krankheiten führen kann“, so Schuman. In ihren aktuellen Forschungsprojekten will sie aufklären, wie sich die Proteine bei den Hirnkrankheiten verändern und so mögliche neue Wege für die Behandlung eröffnen. 

Ein neues Verständnis des Gehirns 

Lange Zeit war die Standardauffassung in der Hirnforschung, dass Proteine im Zellkörper der Neuronen produziert werden. Bei anderen Zellen ist genau dies der Fall. Im Gehirn würde diese Form der Proteinsynthese jedoch zu einem Problem führen: „Wenn Proteine tatsächlich nur im Zellkörper produziert und dann zu den Synapsen transportiert würden, hätte das Gehirn ein riesiges Koordinationsproblem“, sagt Edvard Moser, Nobelpreisträger für Physiologie und Medizin und Vorsitzender des Search Committee des Körber-Preises. Wenn etwa beim Lernen die Synapsen einer Nervenzelle verändert werden, müssten die Proteine exakt an diese Synapsen gelangen und dabei die vielen tausend anderen Synapsen der Zelle umgehen. „Angesichts der ungefähr 10.000 möglichen Synapsen pro Nervenzelle und hunderttausender nötiger Proteine wäre der Sortier- und Transportaufwand astronomisch“, so Moser. Die Proteinsynthese in den Neuronen, und damit die Grundlage für Hirnprozesse wie Lernen und Erinnern, erschien somit rätselhaft.

Schumans Forschung spielte eine Schlüsselrolle bei der Lösung dieses Rätsels. In einer bahnbrechenden Studie zeigte sie, dass in Synapsen auch dann noch Proteine produziert werden, wenn die Synapsen physisch von ihrem Zellkörper getrennt wurden. Diese Erkenntnis war aufsehenerregend, da die hierfür nötigen Proteine nicht im Zellkörper, sondern lokal an den Synapsen hergestellt worden sein mussten – ein klarer Widerspruch zum Lehrbuchwissen der Hirnforschung. „Als ich diese Daten erstmals vorgestellt habe, nannten nicht wenige meiner Kollegen die Idee verrückt“, so Schuman.

Schumans Entdeckung kam einer Revolution in der Hirnforschung gleich. In der Folge trieb Schuman diese Revolution sogar noch weiter. Bezogen sich ihre Erkenntnisse bis dahin nur auf einige besonders wichtige Proteine, konnten sie und ihr Team aufzeigen, dass tausende verschiedene Arten von Proteinen an den Synapsen erzeugt werden können.

Grundlagen für neue Heilmethoden 

Schumans Durchbruch in der Grundlagenforschung könnte zukünftig auch medizinisch entscheidend sein. „Es gibt zunehmend Hinweise, dass viele Hirnkrankheiten letztlich Erkrankungen der Synapsen sind“, so Schuman. Beispiele sind das Fragile-X-Syndrom, die Huntington-Krankheit oder das Rett-Syndrom. Allesamt Krankheiten, die mit verminderter kognitiver Leistungsfähigkeit oder deren Verlust, mit Lernschwierigkeiten und verzögerter sprachlicher Entwicklung einhergehen. Mit den Mitteln des Körber-Preises möchte Schuman nun die bei diesen Erkrankungen auftretenden Veränderungen der Synapsen untersuchen. „Im Idealfall wird diese Arbeit nicht nur die Forschung voranbringen, sondern auch die Grundlage für neue Heilverfahren auf molekularer Ebene bereiten. Wenn wir erfolgreich sind, könnte den Betroffenen von Hirnkrankheiten in Zukunft besser geholfen werden“.

Die Forscherin

Die 1963 geborene Erin Schuman ist seit 2009 Direktorin am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Seit 2015 ist sie zudem Professorin an der Frankfurter Goethe-Universität und seit 2021 Gastprofessorin an der Radboud Universität in den Niederlanden. Aufgewachsen im kalifornischen San Gabriel, absolvierte sie ein Psychologiestudium an der University of Southern California, bevor sie an der Princeton University in Neurowissenschaften promovierte. Es folgten Forschungsstationen an der Stanford University und dem California Institute of Technology, wo sie 1993 eine Assistenzprofessur und 2004 eine Professur erhielt. 1997 wurde sie in das Investigator Program des Howard Hughes Medical Institute aufgenommen. Sie ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der amerikanischen National Academy of Science und der Britischen Royal Society. 2023 erhielt sie den renommierten Brain Prize der dänischen Lundbeck Foundation.

Neben ihrer Forschung engagiert sich die einundsechzigjährige Schuman für eine Erhöhung des Frauenanteils in der Wissenschaft und für die Förderung der Bildungschancen von Jugendlichen. Außerdem hat sie sich gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen intensiv dafür eingesetzt, die Geschichte ihres Instituts während des Nationalsozialismus aufzuarbeiten.

Der Körber-Preis

Der Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft wird Erin Schuman am 20. September 2024 im Großen Festsaal des Hamburger Rathauses überreicht. Der mit einer Million Euro dotierte Körber-Preis zählt zu den weltweit höchstdotierten Forschungspreisen. Die Preissumme ist für Forschung und Wissenschaftskommunikation einzusetzen, zehn Prozent dürfen für persönliche Zwecke verwendet werden. Die Körber-Stiftung zeichnet mit dem Körber-Preis seit 1985 jährlich einen wichtigen Durchbruch in den Physical oder den Life Sciences in Europa aus. Prämiert werden exzellente und innovative Forschungsansätze mit hohem Anwendungspotenzial. Nach Verleihung des Körber-Preises erhielten bislang acht Preisträgerinnen und Preisträger den Nobelpreis. 

Die Preisverleihung findet im Rahmen des ersten Hamburg Science Summit statt. Die von der Körber-Stiftung und der Hamburger Wissenschaftsbehörde organisierte Konferenz bringt am 19. und 20. September europäische Spitzenkräfte aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Think-Tanks zusammen und beschäftigt sich dieses Jahr mit der technologischen Souveränität Europas.

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