Forschung an Zelltröpfchen – Neue Hoffnung für die Behandlung neurodegenerativer Krankheiten

Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft 2022 geht an Anthony Hyman

01.07.2022 - Deutschland

Den mit einer Million Euro dotierten Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft 2022 erhält der britische Zellbiologe Anthony Hyman. Hyman und sein Team entdeckten 2009 – bei Studien an einzelligen Embryonen eines Fadenwurms – einen völlig neuen Zustand biologischer Materie: In der Zellflüssigkeit können sich örtlich Proteine in hoher Konzentration ansammeln. Diese „Kondensate“ ähneln winzigen Tropfen. Sie bilden sich dynamisch, teils in Sekundenschnelle, und werden meist auch schnell wieder abgebaut. Bei – oft altersbedingten – Störungen des Abbaus können sich in betroffenen Zellen toxische Stoffe ablagern, die neurodegenerative Krankheiten wie ALS oder Alzheimer auslösen. Hyman sucht nun nach neuen Medikamenten, die diese Krankheiten heilen könnten.

Körber-Stiftung / Friedrun Reinhold

Anthony Hyman

In gesunden menschlichen Zellen entstehen Kondensate unter anderem, wenn diese „Stress“ – wie Vergiftung, Strahlung oder Hitze – ausgesetzt sind: Sogenannte Stress-Granula fahren dann in einer Art Lockdown-Strategie die Aktivität der Zelle herunter, um dauerhafte Schäden zu verhindern. Im Hirn sammeln sich in Kondensaten beispielsweise Neurotransmitter, die für die Signalübertragung in den Synapsen zuständig sind. Auch im Zellkern ist schätzungsweise ein Drittel der Moleküle in membranlosen Kondensaten organisiert.

Die Erforschung der Kondensate – angestoßen durch Hymans bahnbrechende Entdeckung im Jahr 2009 – steckt noch in den Anfängen, ist aber inzwischen das am schnellsten wachsende Pioniergebiet der Zellbiologie. Kondensate bergen den Schlüssel zu einigen der größten offenen Fragen dieses Fachgebiets. Weltweit versuchen Forschende, den Geheimnissen der komplexen Molekülinteraktionen in den Tröpfchen auf die Spur zu kommen. Auch die Pharmaforschung ist stark engagiert – in der Hoffnung, Kondensatbildung mittels Arzneien beeinflussen und Krankheiten wie Alzheimer oder ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) kurieren zu können. Krankheitsursache sind in beiden Fällen zu toxischen Abscheidungen erstarrte Kondensate.

Anthony Hyman, 60, wurde in der israelischen Stadt Haifa geboren. Nach dem Studium der Zoologie an der britischen University of Cambridge promovierte er 1987 am King’s College über embryonale Zellteilungen des Fadenwurms Caenorhabditis elegans. Als Postdoc ging er an die University of California in San Francisco. 1993 wurde Hyman Gruppenleiter am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg. 1999 war er eines der Gründungsmitglieder des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden, das er bis heute gemeinsam mit einem Direktor:innenteam leitet. Seit 2007 ist er Fellow der britischen Royal Society, seit 2020 internationales Mitglied der amerikanischen National Academy of Sciences und seit 2021 Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.

Die wissenschaftliche Bedeutung der Kondensatforschung erklärt Hyman gern am Beispiel eines Dorfes: Die Dorfbewohner:innen arbeiten an unterschiedlichen Orten, etwa in der Bäckerei oder im Gemüseladen. In ähnlicher Weise sind Zellen organisiert. Proteine und RNA einer Zelle arbeiten in bestimmten Zellbereichen zusammen, darunter den Kondensaten, und erfüllen dort unterschiedliche Funktionen.

Hymans Forschungsansatz ist dementsprechend komplizierter als der traditionelle: Während die Moleküle in den Kondensaten wie üblich biochemisch wechselwirken, unterliegen die Tröpfchen zusätzlich den Gesetzen der Biophysik. Sie bilden sich durch einen sogenannten Phasenübergang – ähnlich wie Wasser bei Kälte zu Eis wird. Die höhere Konzentration an Proteinen in den Kondensaten führt dazu, dass deren Dichte zunimmt. Sie verhalten sich dann ähnlich wie Öltropfen in einer Vinaigrette. Öl und Essig lassen sich nicht perfekt vermischen. Lässt man das Dressing stehen, fügen sich die durch die Energie des Rührens getrennten Öltröpfchen nach und nach zu größeren Tropfen zusammen, bis nach ein paar Stunden das gesamte Öl wieder oben schwimmt.

Eine ähnliche Beobachtung führte 2009 zur Entdeckung der Kondensate, die einen grundlegend neuen Zustand biologischer Materie repräsentieren. Hyman und sein interdisziplinäres Team entwickelten ein ganzes Arsenal an Methoden, um Kondensate zu beobachten und ihre Funktion besser zu verstehen. „Wir kombinieren Konzepte der Molekularbiologie, der physikalischen Chemie und der Physik der weichen Materie“, erklärt der Preisträger.

Mit den Mitteln des Körber-Preises will Hyman die Methoden künftig noch weiter verfeinern. Darüber hinaus will er die Aminosäure-Codes finden, die das biophysikalische Verhalten von Proteinen beeinflussen und erklären, was bei neurodegenerativen Erkrankungen schiefläuft. Er ist überzeugt, „dass das zellbiologische Verständnis der Kondensatbildung einen wichtigen Einfluss auf die künftige Medikamentenentwicklung haben wird”. Deshalb ist Hyman auch Mitgründer der Bostoner/Dresdener Firma Dewpoint Therapeutics, die unter anderem die Wirkung von Medikamenten auf Kondensate erforscht. Vordringlich arbeitet sie daran, die Bildung krankheitsauslösender Ablagerungen mit geeigneten Arzneien zu verhindern.

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