Hohe Auszeichnung für die Pioniere der Optogenetik
Dieter Oesterhelt, Emeritus-Direktor am Max-Planck-Institut für Biochemie, erhält zusammen mit Peter Hegemann und Karl Deisseroth den Lasker Basic Medical Research Award 2021
© MPG/Filser
Neugier, Wissenstrieb und nicht zuletzt Zufall – das sind bisweilen die entscheidenden Zutaten für eine wissenschaftliche Entdeckung. Anfang der 1970er-Jahre wies Dieter Oesterhelt Retinal in der Zellmembran des Archaebakteriums Halobacterium salinarum nach. Als Bestandteil des Proteins Rhodopsin ist Retinal in der Netzhaut der meisten Wirbeltiere, einschließlich des Menschen, am Sehvorgang beteiligt. Nun wurde es überraschend bei einem Halobakterium gefunden. Doch wie so oft in der Forschung, stand der Pionier mit seiner Entdeckung zunächst ziemlich alleine da. Im Gespräch mit dem Wissenschaftshistoriker Matthias Grote erinnert sich Dieter Oesterhelt: „In der Tat stieß ich bei den Kollegen auf Desinteresse bis vollkommenen Unglauben. […] Auch Feodor Lynen, mein Doktorvater, mein damaliger Chef an der Biochemie der Universität München und Nobelpreisträger, zeigte sich nicht sonderlich begeistert von diesem neuen Thema. […] Als ich ihm einmal meine Theorie der biologischen Funktion des neuen Moleküls an der Tafel skizzierte, kam von ihm der schöne Satz ,Herr Oesterhelt, ich glaube das nicht, aber ich wünsche Ihnen, dass Sie recht haben.“
Die bei Nature eingereichte Publikation wurde mit dem Hinweis kommentiert, die Experimente seien zwar in Ordnung, aber die Analogie zu Rhodopsin sei doch weit hergeholt. „Es war damals einfach inakzeptabel, dass man Retinal woanders findet als in einem Auge“, sagt der Wissenschaftler heute. Und so erschien die erste Publikation zu Bacteriorhodopsin, wie die Autoren ihr Molekül getauft hatten, 1971 in dem Journal Nature New Biology.
Lichtgetriebene Protonenpumpe
Bei dem neu entdeckten Protein handelte es sich um eine lichtgetriebene Protonenpumpe. Dabei verkörpert das Retinal gewissermaßen das Herzstück des Moleküls, das jeweils einen feinen Kanal in der Membran des Archaebakteriums bildet. In der Mitte dieser „Pore“ ist das Retinal aufgehängt und arbeitet dort gleichsam als „Kolben“: Es fördert unter Lichteinwirkung Protonen, also positiv geladene Wasserstoffionen, durch den Bakteriorhodopsin-Kanal aus dem Innern der Zelle nach draußen. Dadurch entsteht ein Gradient, ein Protonen-Konzentrationsgefälle zwischen innen und außen, und über die Membran hinweg wird auf diese Weise ein elektrisches Potenzial aufgebaut. Der Vorgang gleicht dem Laden einer Batterie. So wird das vom Retinal absorbierte Licht in elektrochemische Energie umgewandelt und in dieser Form vom Archaebakterium genutzt.
Dieses aufgrund seiner Färbung als Purpurmembran bezeichnete System ist – neben dem Chlorophyllapparat der grünen Pflanzen – das zweite lichtenergiewandelnde Prinzip der belebten Natur. „Tatsächlich hat die Evolution den grundlegenden Prozess der Photosynthese zweimal erfunden. Einmal bei den Eubakterien, über die diese Technik dann auf Algen und grüne Pflanzen kam, und einmal bei den Archaebakterien – denen vermutlich auch das ältere Patent für diese Erfindung zusteht“, sagt Dieter Oesterhelt.
Neues Werkzeug für die Wissenschaft
40 Jahre nach Oesterhelts bahnbrechenden Arbeiten avancieren das von ihm gefundene Bakteriorhodopsin und das von seinem ehemaligen Forschungsgruppenleiter Peter Hegemann, heute Professor an der Humboldt-Universität in Berlin, in der Grünalge Chlamydomonas entdeckte Kanalrhodopsin zu neuen Werkzeugen in der Neurobiologie. Wichtige Beiträge auf diesem Gebiet hat auch der dritte Ausgezeichnete, Karl Deisseroth in Stanford, geliefert. So wurde es möglich, Neuronen und ihre Schaltkreise nicht-invasiv und mit beispielloser Auflösung zu untersuchen. Die Optogenetik, so der Name der neuen Technologie, ermöglicht es Forschenden, mittels Gentransfer die Bauanleitung für die lichtgeschalteten Proteine in Zellen einzuschleusen. Dadurch lässt sich etwa die Aktivität von Gehirnzellen kontrollieren, indem die durch die Kanäle geleiteten Ionenflüsse mit Licht an- oder abgeschaltet werden.
Über seinen Schüler Peter Hegemann, der als sein Doktorand die Chloridpumpe Halorhodopsin untersuchte, sagt Dieter Oesterhelt: „[Er] war unglaublich zäh und bekam sehr viel heraus, wofür er auch die Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft erhielt. […] In den USA bei Ken Foster nahm er die Suche nach vergleichbaren Proteinen in Algen auf und stellte fest, dass diese eher wie molekulare Kanäle als wie eine Pumpe funktionieren, dass man sie aber auch mit Licht gezielt ansteuern kann. Dieses Thema verfolgte er dann mit seinen eigenen Leuten fünf Jahre lang bei uns und danach an der Universität Regensburg in den 1990er-Jahren unnachgiebig weiter.“
Nutzen für die Medizin
Die Arbeiten von Dieter Oesterhelt, Peter Hegemann und Karl Deisseroth haben Technologien zur Untersuchung der Gehirnfunktion und Wege zum besseren Verständnis neurodegenerativer Erkrankungen und psychischer Erkrankungen ermöglicht. Und sie eröffnen erstmals auch Möglichkeiten, um eine bislang unheilbare Krankheit vielleicht zu heilen: Retinitis pigmentosa. Diese beginnt mit Defiziten beim Sehen im Dunkeln, weil die Stäbchen absterben; später verlieren die Zapfen ihre Lichtempfindlichkeit, was schließlich zur Erblindung führt. Botond Roska, der am Friedrich-Miescher-Labor in Basel arbeitet und 2020 mit dem europäischen Körberpreis ausgezeichnet wurde, hat lichtempfindliche Proteinkanäle aus Algen und Bakterien in noch intakte Zellen der Netzhaut von Patienten eingebaut, damit diese die Aufgabe der Lichtrezeptorzellen übernehmen können. Die in Nature Medicine im Mai 2021 veröffentlichten klinischen Daten zeigen erstmals, dass optogenetische Methoden einem erblindeten Menschen eine gewisse Sehfähigkeit zurückgeben können.
„Hier wird deutlich, welch langen Atem Wissenschaftler brauchen, um aus einem selbstgesteckten Ziel der Grundlagenforschung eine neue Entwicklung anzuschieben“, sagt Oesterhelt. „Ich möchte nur immer wieder betonen, dass ich es für wichtig halte, für Zufälliges offen zu sein und auch dem vielleicht unbedeutend Erscheinenden nachzugehen.“ Wäre der junge Biochemiker vor 50 Jahren allen Unkenrufen zum Trotz nicht seiner Neugier gefolgt – wer weiß, ob es die bahnbrechende Technologie der Optogenetik heute überhaupt gäbe?