Bootsbau in der Leber

Forscher entdecken Mikrostrukturen in Leberzellen, die zur Früherkennung von Krankheiten beitragen könnten

13.08.2021 - Deutschland

Die Leber ist unser größtes Stoffwechselorgan, das für die Entgiftung und Verdauung wichtig ist. Sie produziert Galle, eine Verdauungsflüssigkeit, die in den Darm geleitet wird. Für den Transport der Galle bilden die Leberzellen ein Netz winziger Röhrchen (Gallenkanälchen), die für die Funktion des Organs unverzichtbar sind. Forscher des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden haben nun herausgefunden, dass Leberzellen aus Membran bestehende Querverbindungen nutzen, um die Gallenkanälchen zwischen den Zellen zu verstärken – ein ähnliches Prinzip wie bei Schottwänden im Bootsbau. Diese winzigen Membranstrukturen scheinen zur Entwicklung der Gallenkanälchen beizutragen und damit für die Leberfunktion wichtig zu sein. Eine Blockade der Kanälchen kann zu einer Vielzahl von schweren Lebererkrankungen führen. In Zukunft wird das Team von Marino Zerial am MPI-CBG erforschen, wie diese mikroskopischen Membranschotten als mögliche neue diagnostische Indikatoren für Lebererkrankungen genutzt werden könnten.

Belicova et al. / MPI-CBG

Hochauflösendes Mikroskopiebild mit Gallenkanälchen (rot), das von zwei Hepatozyten gebildet wird, mit Zellkernen in grau. Mit Einzelmolekül-Lokalisierungsmikroskopie wurde F-Actin (rot) analysiert. F-Aktin-reiche Strukturen bilden ein gestreiftes Muster.

Unser zentrales Stoffwechselorgan ist die Leber. Um Fette zu verdauen und Abfallprodukte zu entsorgen, produzieren die Leberzellen, die als Hepatozyten bezeichnet werden, Gallenflüssigkeit. Diese wird durch ein röhrenförmiges Netzwerk zu den Gallengängen geleitet, über die sie schließlich in den Darm gelangt. Hepatozyten machen etwa 80 Prozent der Lebermasse aus und bilden ein sehr komplexes dreidimensionales Röhrensystem, um Gallenflüssigkeit abzusondern und zu transportieren. Die feinen Verästelungen dieses Röhrennetzes, die Gallenkanälchen, werden zwischen zwei benachbarten Hepatozyten gebildet und haben einen Durchmesser von nur etwa einem Mikrometer. Zum Vergleich: Ein menschliches Haar ist etwa 100 Mikrometer breit. Da die Hepatozyten in einem dreidimensionalen Gewebe organisiert sind, stehen sie in allen Richtungen mit mehreren benachbarten Zellen in Verbindung und bilden ein komplexes Netz aus hochgradig verzweigten Gallenkanälchen.

Da dieses Netzwerk für die Leberfunktion und die menschliche Gesundheit von entscheidender Bedeutung ist, haben sich Forscher intensiv mit der Frage beschäftigt, wie Hepatozyten ihre Membranoberfläche formen, um ein so feines und weit verzweigtes Netzwerk zu bilden. Um die Mechanismen aufzudecken, die der Form der Gallenkanälchen zugrunde liegen, haben Wissenschaftler um den Forschungsgruppenleiter und MPI-CBG Direktor Marino Zerial die Mikroarchitektur des sich bildenden Netzwerks im Detail analysiert.

Gleiche Funktionsweise wie die Schottwände von Booten

Das MPI-CBG in Dresden verfügt über modernste Mikroskopietechnologien, mit denen man Merkmale von Zellen sichtbar machen kann, die bisher aufgrund ihrer geringen Größe oder schnellen Bewegungen nicht gesehen werden konnten. Lenka Belicova, die Erstautorin der Studie und ehemalige Doktorandin im Labor von Marino Zerial, erklärt: „Wir haben die embryonalen Hepatozyten unter dem Mikroskop beobachtet. Sie begannen, einen zunächst kugelförmigen Hohlraum zwischen zwei benachbarten Zellen zu bilden, der sich dann aber zu einer länglichen Röhre ausdehnte. Andere Zelltypen bilden typischerweise kugelförmige Hohlräume in vitro in einem Reagenzglas außerhalb ihres biologischen Kontextes. Also fragten wir uns, warum der Hohlraum zwischen Hepatozyten ein solches röhrenförmiges Wachstum aufweist.“ Die Beobachtungen aus den Filmaufnahmen wurden mit einer bekannten Methode zur Aufnahme statischer, aber detaillierterer Bilder, der Elektronenmikroskopie, kombiniert. Der Forschungsgruppenleiter Marino Zerial erläutert: „Der Schlüssel war die Interpretation dieser elektronenmikroskopischen Bilder. Wir entdeckten, dass benachbarte Hepatozyten ein Muster aus spezifischen Verlängerungen ihrer äußeren Membran zusammensetzen, die die beiden benachbarten Zellen über den sich ausdehnenden Raum hinweg miteinander verbinden. Diese bisher unentdeckte Strukturen bilden ein Muster, das uns an die Schottwände von Booten, Schiffen und Flugzeugen erinnerte. In Booten sorgen die Schottwände für strukturelle Stabilität und Festigkeit. In den Hepatozyten sorgen sie für die Ausdehnung der Röhren.“

In Zusammenarbeit mit Timofei Zatsepin, außerordentlicher Professor am Skolkovo Institute of Science and Technology in Moskau, suchten die Forscher nach molekularen Bestandteilen, die für die Bildung der verlängerten Röhren benötigt werden. Lenka ergänzt: „Wir fanden heraus, dass das Gen Rab35 eine Rolle bei der Bildung der länglichen Röhren spielt. Wenn Rab35 fehlte, verschwanden die Schottwände und die von den Hepatozyten gebildeten Hohlräume nahmen eine kugelförmige Gestalt an.“ Die Forscher konnten die Bedeutung der apikalen Schottwände in physiologischer Hinsicht nachweisen. Indem sie die Rab35-Konzentration verringerten, konnten sie die Architektur der sich entwickelnden Mäuseleber verändern und die Bildung von Zysten und Röhren bewirken, die den pathologischen Veränderungen der kranken menschlichen Leber ähneln.

Bedeutung für Lebererkrankungen

Die Gruppe von Marino Zerial ist die erste, die diese Membranschotten gefunden hat. Die Forscherinnen und Forscher konnten diese Strukturen mit einem interdisziplinären Ansatz entdecken, der fortschrittliche Mikroskopietechniken mit computergestützter 3D-Rekonstruktion von Mikroskopiebildern kombiniert. Diese spezielle Kombination ermöglichte es, die sehr feinen Details der Mikroarchitektur der Gallenkanälchen sichtbar zu machen und diese Entdeckung zu machen. „Mit der Entdeckung dieser neuen subzellulären Strukturen ermöglichen wir neue Einblicke in die seit langem unbeantwortete Frage, wie das röhrenförmige Netzwerk der Gallenkanälchen in der embryonalen Leber gebildet wird“, fasst der Studienleiter Marino Zerial zusammen. „Wir sind sehr erfreut über diese Ergebnisse, denn die apikalen Schottwände könnten der Schlüssel zum Verständnis von Leberfunktionsstörungen wie Cholestase sein. Die strukturellen Veränderungen des Lebergewebes bei menschlichen Patienten ähneln in bemerkenswerter Weise denjenigen, die durch den Verlust der Schottwände verursacht werden. Jetzt wissen wir, worauf wir achten müssen, um den Krankheitsverlauf in der Leber zu verstehen – eine Voraussetzung für die Entwicklung neuer therapeutischer Strategien.“

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