Adipositas, Herzkrankheiten oder Diabetes könnten übertragbar sein
Eine revolutionäre Hypothese
© Christian Urban, Uni Kiel
Eine revolutionäre Hypothese
"Wenn sich unsere Hypothese als richtig herausstellt, wird sie unsere Auffassung der öffentlichen Gesundheit völlig neu definieren", sagt Brett Finlay, Professor für Mikrobiologie an der Universität von British Columbia und Leiter des CIFAR-Forschungsprogramms „Humans & the Microbiome“. Die Wissenschaftler stützen ihre Theorie darauf, erstmals Verbindungen zwischen drei verschiedenen bereits belegten Erkenntnissen herzustellen: Erstens konnten sie zeigen, dass bei einer Vielzahl von Erkrankungen, von Adipositas und entzündlichen Darmerkrankungen bis hin zu Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, das menschliche Mikrobiom im Vergleich zum gesunden Körper deutliche Veränderungen zeigt. Zweitens zeigten sie zahlreiche Belege dafür, dass solche veränderten Mikrobiom-Zusammensetzungen zur Ausprägung von Krankheiten führen, wenn man sie im Laborexperiment in einen ursprünglich gesunden Modellorganismus überträgt. Entnimmt man etwa das Darmmikrobiom einer fettleibigen Maus und transferiert es in ein gesundes Tier, wird dieses ebenfalls übergewichtig. Schließlich fanden sie zahlreiche Indizien, die auf eine generelle natürliche Übertragbarkeit des Mikrobioms hinweisen. "Wenn man diese Fakten zusammenfasst, legt das die Vermutung nahe, dass viele traditionell nicht als übertragbar eingestufte Krankheiten vielleicht doch übertragbar sind", betont Finlay.
Insbesondere den dritten Aspekt konnten Forscher aus Boschs Arbeitsgruppe an der Kieler Universität belegen. „Hält man Labortiere wie die Süßwasserpolypen nicht einzeln, sondern über eine gewisse Zeit in einem gemeinsamen Lebensraum, gleicht sich zunächst ihr Mikrobiom und in der Folge und auch ihre äußere Erscheinungsform einander an“, fasst Mitautor Bosch, Sprecher des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ an der CAU, zusammen. „Wir konnten nachweisen, dass dabei die Mikroben direkt von einem Individuum zum anderen gelangen. Möglicherweise findet diese Übertragung des Mikrobioms auch beim menschlichen Zusammenleben statt, zum Beispiel durch intensive soziale Kontakte oder in gemeinsamen Wohnungen“, vermutet Bosch.
Anstoß für weitere Forschungsarbeiten
Die revolutionäre neue Hypothese des CIFAR-Teams beruht auf einem explorativen interdisziplinären Austausch der im Mikrobiom-Forschungsprogramm kooperierenden Expertinnen und Experten und ihren unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven. Zunächst nur als Gedankenexperiment formuliert, zeigte sich schnell, dass es eine Vielzahl von deutlichen Hinweisen aus den verschiedenen Fachgebieten gibt, die die neue Theorie plausibel erscheinen lassen – sollte sie sich als zutreffend erweisen, hätte sie offensichtlich weitreichende Konsequenzen für die öffentliche Gesundheit. Die Forschenden betonen, dass ihre Hypothese gewagt ist und viele der beteiligten Mechanismen noch unbekannt sind. "Wir wissen immer noch nicht, in welchen Fällen diese Form der Übertragung zunimmt oder ob auch ein gesunder Zustand übertragen werden kann", sagt Mitautorin Maria Gloria Dominguez-Bello, Professorin an der Rutgers University in New Jersey. "Wir brauchen mehr Forschung, um die mikrobielle Übertragung und ihre Auswirkungen zu verstehen", so Dominguez-Bello weiter.
Dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen einem gestörten Mikrobiom und vielen Krankheiten besteht, steht jedoch heute außer Frage. Wie das Mikrobiom mit anderen Einflüssen, zum Beispiel bestimmten Umweltbedingungen und genetischen Faktoren bei der Übertragung verschiedener Krankheiten zusammenwirkt, sollen weiterführende Forschungsarbeiten erweisen. „Die neue Hypothese macht klar, dass wir Störungen der mikrobiellen Besiedlung des Körpers viel stärker als bisher als Krankheitsursache in Betracht ziehen und auch die potenziellen Übertragungswege näher erforschen müssen“, betont Bosch. „Dieser Aspekt wird in den kommenden Jahren einer der Schwerpunkte unserer Arbeit in unserem Metaorganismus-Sonderforschungsbereich sein“, so Bosch weiter. Der 2016 an der CAU gestartete SFB 1182 wird seit Anfang des Jahres für weitere vier Jahre in einer zweiten Förderphase von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert.