Fischgehirnzellen mit abnormer Chromosomenzahl entwickeln sich zu dauerhaft überlebensfähigen Neuronen
Bislang galt als gängige Lehrmeinung, dass jede Zelle eines Organismus die identische Erbinformation enthält, die auf einer arttypischen Anzahl von Chromosomen gespeichert ist. Als Ausnahmen galten Spermien und Eizellen, die je nur einen halben Chromosomensatz enthalten. Eine Abweichung von der arttypischen Anzahl, sogenannte "Aneuploidie", führt nach bisherigem Kenntnisstand entweder zum frühzeitigen Absterben der Zellen durch den sogenannten "programmierten Zelltod" oder ruft schwere Beeinträchtigungen hervor, etwa das Down-Syndrom beim Menschen oder bösartige Tumoren, deren Zellen ebenfalls fast immer durch eine merklichen Variationen der normalen Chromosomenzahl gekennzeichnet sind.
Günther Zupanc konnte nun zusammen mit seinem Team an der Jacobs University nachweisen, dass die Nervenzellen im Gehirn des Messerfisches Apteronotus leptorhynchus, die durch Fehler bei der mitotischen Zellteilung eine erhebliche Chromosomenvariabilität aufweisen, nur geringfügig häufiger durch programmierten Zelltod eliminiert werden, als Zellen mit "normaler" Chromosomenausstattung. Die Mehrzahl der Zellen mit abweichender Chromosomenzahl, die dem Zelltod während oder kurz nach der Zellteilung entgehen, überleben dauerhaft. Im Experiment konnte dies gezeigt werden, indem das Schicksal der Zellen über einen Zeitraum von bis zu 860 Tagen verfolgt wurde. Dies entspricht etwa der Hälfte der Gesamtlebenserwartung der untersuchten Fischart, die wie andere Knochenfische kontinuierlich neue Neuronen auch im ausgewachsenen Gehirn produzieren kann. Von den neuen Zellen mit abweichender Chromosomenzahl entwickeln sich etwa genauso viele zu Neuronen, wie von den Zellen mit normaler Chromosomenzahl.
"Dieses Ergebnis war eine große Überraschung für uns", kommentiert Günther Zupanc die Studie. Das anscheinend völlig normale Funktionieren von aneuploiden Nervenzellen während der gesamten Lebensspanne von Apteronotus leptorhynchus stütze die Vermutung, dass es sich bei der beobachteten Chromosomenzahlvariabilität um einen Regelmechanismus für Genaktivität handelt, der für einige, vielleicht sogar alle Organismen ein ganz normaler Teil ihrer Entwicklung sei, so der Neurobiologe weiter. "Unsere Studie wirft daher wichtige Fragen auf: Ist Aneuploidie doch nicht, wie bisher von zahlreichen Wissenschaftlern angenommen, die Ursache für Krebs? Oder gibt es bei Fischen einen speziellen Mechanismus, durch den die aneuploiden Zellen vor ihrem normalen Schicksal, Tumorzellen zu werden, geschützt sind? Das letztere ist eine faszinierende Idee, da sie die Möglichkeit beinhaltet, eventuell neuartige Strategien zur Krebsbekämpfung entwickeln zu können", schlussfolgert der Wissenschaftler der Jacobs University.
Originalveröffentlichung: Developmental Neurobiology 2008; 68: S. 1257-1268.
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