Therapeutisches Gen unter Krebsverdacht

02.05.2006

Eine der wenigen bisher erfolgreichen Gentherapiestudien musste 2003 abgebrochen werden, weil einige der behandelten Kinder an Leukämie erkrankten. Der Blutkrebs wurde durch die Aktivierung eines Onkogens ausgelöst. Christof von Kalle, Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) und Deutsches Krebsforschungszentrum, zeigte nun gemeinsam mit Kollegen aus dem Salk Institute, La Jolla, Kalifornien, dass das übertragene menschliche Gen selbst auch krebsfördernde Eigenschaften hat.

Das Leben von Kindern mit der schweren angeborenen Immunschwäche X-SCID (X-chromosomal severe combined immunodeficiency) ist ständig bedroht, da ihr Immunsystem Infektionen mit Krankheitserregern nicht abwehren kann. Grund dafür ist ein Defekt im Gen für die gamma-Kette des Interleukin-2-Rezeptors (IL2RG). Dieses Protein, das auf der Oberfläche vieler Immunzellen vorkommt, steuert eine Vielzahl an Reifungs- und Differenzierungsprozessen des Abwehrsystems.

Im Jahr 1999 startete unter der Federführung von Alain Fischer im französischen Hôpital Necker eine Gentherapiestudie an X-SCID erkrankten Kindern, bei der das defekte IL2RG-Gen durch eine gesunde Kopie ersetzt wurde. Die Immunfunktionen der Teilnehmer besserten sich deutlich. Trotzdem wurde die Studie 2003 gestoppt, als drei der insgesamt 27 in solchen Studien behandelten Kinder zwei bis drei Jahre nach der Genübertragung an Leukämie erkrankten. Der Grund dafür war, so ergaben anschließende Untersuchungen durch Christof von Kalle, dass das IL2RG-Gen in der Nähe des Onkogens LMO2 in das Erbgut der Patienten eingebaut wurde. Durch die enge Nachbarschaft des sehr aktiven therapeutischen Gens kam es zur Aktivierung des Onkogens und damit zum unkontrollierten Wachstum der Zellen.

In ihrer neuen Studie zeigte Professor Christof von Kalle, Deutsches Krebsforschungszentrum und Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg, zusammen mit Kollegen aus dem Salk Institute, dass IL2RG selbst auch eine krebsfördernde Wirkung haben kann.

Die Forscher beobachteten Mäuse nach einer IL2RG-Gentherapie über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren. Als Vehikel für das IL2RG-Gen dienten in dieser Untersuchung Lentiviren, die bei ihrem Einbau in das Erbgut der Zelle keine benachbarten Gene aktivieren und daher das Krebsrisiko minimieren sollen. Dennoch entwickelte rund ein Drittel der Tiere vier bis acht Monate nach der Behandlung T-Zell-Lymphome. Molekulargenetische Analysen der Tiere bestätigten, dass der Lymphdrüsenkrebs nicht durch die direkte Aktivierung von Onkogenen ausgelöst wurde. Die gamma-Kette des Interleukin2-Rezeptors wird auch in die zellulären Andockstellen vieler anderer Immunbotenstoffe eingebaut. Die Bindung dieser Botenstoffe an die Rezeptoren auf der Zelloberfläche bedeutet in vielen Fällen ein Wachstumssignal an die Zelle. Möglicherweise sind Fehlsteuerungen in einem dieser Signalwege verantwortlich für das entgleiste T-Zell-Wachstum bei den erkrankten Tieren, so vermuten die Autoren.

"Die Studie zeigt zweierlei", kommentiert von Kalle. "Bevor Gentherapien am Patienten gestartet werden, ist nach dem Gentransfer am Versuchstier eine lange Beobachtungszeit notwendig, um auch Spätfolgen abschätzen zu können. Früher wurden Mäuse im Vorfeld von Therapieversuchen zum Teil nur über sechs Monate beobachtet. Die gute Botschaft ist: Nicht die Gentherapie selbst oder der Vektor für das therapeutische Gen lösten die T-Zell-Lymphome aus, sondern der Interleukin-2-Rezeptor selbst. Werden Gene übertragen, deren Produkte keine wachstumsfördernden Eigenschaften haben, besteht daher möglicherweise ein geringeres Risiko, dass die behandelten Zellen bösartig entarten."

Originalveröffentlichung: N. Bjarne-Woods, V. Bottero, M. Schmidt, C. von Kalle, I. Verma; "Therapeutic Gene causing lymphoma."; Nature 2006, Band 440, Seite 1123.

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