Genfamilie führt auf eine neue Spur zur Entstehung von Krebs
Autophagie dient bekanntlich dazu, Eiweiße oder Organellen aus dem Verkehr zu ziehen und zu recyceln, und sie wird auch gezielt eingeschaltet, wenn die Zelle wenig Nährstoffe zur Verfügung hat. Sie kann Bausteine und Energie dann für die überlebensnotwendigen Vorgänge gebrauchen. Es wird geschätzt, dass 99 Prozent aller Eiweiße, die meist als biochemische Werkzeuge in der Zelle fungieren, durch Autophagie abgebaut werden. Wenn zum Beispiel die Mitochondrien, Organellen geschädigt sind, können sie gefährliche Radikale freisetzen. Diese können Veränderungen in den Genen verursachen. "Wenn die Autophagie richtig funktioniert, werden die beschädigten Mitochondrien in eine Membran eingeschlossen und darin von speziellen Eiweiß-Werkzeugen auseinander genommen, die Zelle überlebt", sagt Nordheim. Ist die Zelle stark geschädigt, kann die Autophagie dazu beitragen, sie ganz abzubauen. Die Zelle begeht dann sozusagen einen geregelten Selbstmord. Hier sehen die Forscher eine wahrscheinliche Verbindung zur Entstehung von Krebs: Wenn die Prozesse der Autophagie gestört sind, werden geschädigte, aber noch teilungsfähige Zellen nicht beseitigt und könnten zu Tumoren auswachsen.
Tatsächlich hat Tassula Proikas-Cezanne beim Vergleich normaler Zellen von Krebspatienten mit Zellen aus den Tumoren festgestellt, dass die WIPI-Gene bei manchen Krebsarten fehlreguliert waren. "Eine Gruppe der WIPI-Gene wurde in den Tumorzellen bei Haut- und Gebärmutterkrebs deutlich häufiger abgelesen. Das Ablesen der anderen WIPI-Gengruppe erscheint in Tumorzellen des Bauchspeicheldrüsen- und Nierenkrebses unterdrückt. Diese Beobachtungen müssen nun genauer untersucht werden, aber interessant ist der Zusammenhang mit der Autophagie: Mindestens eines der WIPI-Eiweiße ist an Autophagie-Prozessen in menschlichen Zellen beteiligt", fasst Proikas-Cezanne ihre Beobachtungen zusammen.
Die Tübinger Forscher gehen davon aus, dass die Prozesse der Autophagie die Tumorbildung erst unterdrücken und dann begünstigen können. Andere Wissenschaftlerteams haben mit dem Beclin-Gen ebenfalls eine Verbindung zwischen Autophagie und Tumorbildung gefunden. Darüber hinaus scheint auch eine Verbindung zwischen Fehlern in der Regulation der Autophagie und neurodegenerativen Erkrankungen, bei denen Nervenzellen zerstört werden, wie zum Beispiel Chorea Huntington (Veitstanz) oder Alzheimer, zu bestehen.
Tassula Proikas-Cezanne und Alfred Nordheim ertsellten in Zusammenarbeit mit Tancred Frickey und Andrei Lupas einen Stammbaum für die WIPI-Gene und kamen zu dem Ergebnis: "Auch Würmer und Pflanzen haben WIPI-Gene und nutzen den Prozess der Autophagie. Der Recyclingmechanismus ist sehr früh in der Evolution entstanden und ist in der Hefe gut untersucht", so Proikas-Cezanne. Die WIPI-Gene kommen in allen Organismen von der einzelligen Hefe über Pilze und Fruchtfliege bis hin zu Wirbeltieren vor. "Wenn Gene beziehungsweise die durch sie codierten Eiweiße in ihrer Struktur so lange überdauern, deutet das prinzipiell auf eine schwer entbehrliche Funktion hin", sagt Nordheim.
Die Tübinger Zellbiologen wollen nun vor allem der heißen Spur des Zusammenhangs zwischen der Regulierung der WIPI-Gene und der Tumorbildung nachgehen. Denn möglicherweise hätte man damit einen neuen Ansatzpunkt, um Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung von Krebs zu nehmen. Die Universität hat über die WIPI-Gene ein Patent beim deutschen Patentamt in München angemeldet, um die mögliche Nutzung der Erkenntnisse in der Biotechnologie und pharmazeutischen Industrie verwerten zu können.