Der Chemie des Lernens auf der Spur
Medikamente verdoppeln den Lernerfolg -- RUB-Neurowissenschaftler entwickeln "Brain-Training"
Übung macht den Meister - das gilt auch für Wahrnehmungsleistungen, die sich durch Lernaufgaben kontinuierlich verbessern lassen (perzeptuelles Lernen). Nehmen Testpersonen dazu noch spezielle Medikamente ein, dann verdoppelt sich der Lernerfolg - das zeigen jetzt die beiden Bochumer Forschergruppen von PD Dr. Hubert Dinse (Institut für Neuroinformatik) und Prof. Dr. Martin Tegenthoff (Neurologische Universitätsklinik Bergmannsheil): Die Neurowissenschaftler manipulieren pharmakologisch das perzeptuelle Lernen und zugleich damit verbundene Gehirnveränderungen, die sie durch Hirnstrommessungen erfassen.
Aktives Training: Zwei Drahtstifte - zwei Reize
Perzeptuelles Lernen erfolgt durch stete Wiederholung. So lassen sich Objekte, die in ihrer Oberflächenbeschaffenheit sehr ähnlich sind, mit einiger Übung allein durch Anfassen voneinander unterscheiden. Diese Fähigkeit zur "taktilen Auflösung" messen die Forscher psychophysisch bei Versuchspersonen, indem diese zwei dünne Drahtstifte tasten müssen, deren Abstand voneinander immer geringer wird. Der kleinste Abstand, bei dem die Versuchsperson noch zwei Drahtstifte wahrnimmt, ist die Zweipunktdiskriminationsfähigkeit. Jeder Mensch hat eine individuelle Zweipunktdiskriminationsschwelle, die sich durch langandauerndes Training herabsetzen lässt.
Lernen durch passives Training
Bereits vor etwa fünfzig Jahren postulierte der kanadische Psychologe Hebb, dass "Gleichzeitigkeit" bzw. "Simultanität" von Ereignissen synaptische Übertragung und damit Lernprozesse verbessert. Diese Erkenntnis setzen die Forscher in ein Stimulationsprotokoll um, dass die natürliche Tastwahrnehmung nachvollzieht: Mit schwachen elektrischen Impulsen reizen sie gleichzeitig und mit einer niedrigen Rate (ein Reiz je Sekunde) kleine Bereiche der Zeigefingerspitzen von Versuchspersonen. Die Reize überträgt eine bewegliche Membran auf dem Zeigefinger der Versuchsperson. Da diese "Coaktivierung" mobil über ein kleines tragbares Kästchen erfolgt, können die Testpersonen dabei "normalen" Tätigkeiten nachgehen. Das Ergebnis: Nach drei Stunden hatte sich die taktile Diskriminationsfähigkeit vorübergehend für einen Zeitraum von 24 Stunden verbessert.
Was beim Lernen im Gehirn passiert
Gleichzeitig erfassen die Forscher mit 32 Elektroden über der gesamten Hirnrinde die beim perzeptuellen Lernen ablaufenden Vorgänge im Gehirn (somatosensorisch evozierte Potenziale). Sie konnten mit der nicht-invasiven Untersuchungstechnik ("neurophysiologisches Mapping") Lage und Ausdehnung des sensiblen Repräsentationsgebietes der Fingerspitze auf der Hirnoberfläche genau bestimmen: Die Hirnstrommessungen zeigten eine Verschiebung und Vergrößerung der Repräsentation des Zeigefingers auf der Hirnoberfläche, wenn sich die Diskriminationsfähigkeit verbesserte. Das Ausmaß des Lernerfolgs war von Person zu Person unterschiedlich.
Chemie des Lernens
Nur wenige grundlegende chemische Mechanismen kontrollieren die Effizienz von Synapsen, dazu gehört die Gruppe der sog. NMDA-Rezeptoren (N-Methyl-D-Aspartat). Ihre Aktivierung führt über eine Kette komplexer molekularer Vorgänge zu langanhaltenden Veränderungen der Synapseneffizienz, was u. a. als Langzeitpotenzierung (long-term-potentiation LTP) bezeichnet wird. In diesen Vorgängen sehen die Forscher heute die Basis synaptischer Plastizität. Die LTP ist aber auch durch andere Substanzen modulierbar und lässt sich z. B. durch die Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin steigern. Amphetamine, die im Gehirn Substanzen wie Dopamin, Serotonin und Noradrenalin freisetzten, verstärken somit auch die synaptische Plastizität.
Die Tablette für den Lernerfolg
Nun stellte sich die Frage, ob Substanzen, die auf der Ebene der Synapsen das Lernen ermöglichen und verbessern, auch bei Einnahme durch die Versuchspersonen einen solchen positiven Effekt auf das perzeptuelle Lernen haben würden: Mithilfe einer einmaligen Applikation der Substanz Memantine, die den NMDA-Kanal blockiert, eliminierten die Forscher den Lernerfolg zunächst vollständig. Durch Messung der Tastschwellen des linken, nicht-coaktivierten Zeigefingers konnten sie unspezifische Nebenwirkungen des Medikaments ausschließen. Dann erhielten die Testpersonen eine einmalige Gabe Amphetamin (Psychopharmaka), was tatsächlich zu einer Verdoppelung des Lernerfolges führte, ohne Nebenwirkungen auf die Empfindung des nicht-coaktiverten linken Fingers zu verursachen. Die Hirnstrommessungen zeigten entsprechende Veränderungen: Die Blockade des Lernens unter Memantine schränkte die Hirnveränderungen ein, während der doppelte Lernerfolg durch Amphetamin zu einer Ausdehnung der Hirnrepräsentation führte.
Therapieausblick: "Brain-Training"
Die Ergebnisse stehen möglicherweise am Anfang einer neuen Ära, in der sich Gehirnfunktionen und damit das Verhalten durch eine Kombination von Training, Stimulation und medikamentöser Therapie aktiv und gezielt verändern lassen. Das entwickelte Coaktivierungsprotokoll beruht auf einer passiven Stimulation über mehrere Stunden, die zu massiven Änderungen von Gehirnorganisation und Verhalten führte. Dieses passive Training verspricht neue Therapieansätze: Gerade für ältere Menschen oder Patienten mit neurologischen Störungen, z. B. nach einem Schlaganfall oder einer Hirnverletzung. Sie können sich oft nicht ausreichend lange auf die erforderlichen Therapien konzentrieren oder selbst aktiv mitmachen. Der passiv orientierte Therapieansatz spart zudem Kosten - aufgrund seiner geringeren Personalintensität.
Die Förderer
Die Studie wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Heinrich-und-Alma-Vogelsang-Stiftung, Bochum, und insbesondere durch die International Graduate School for Neuroscience der RUB unterstützt.