Biotronik ersetzt die Sinne
Computer hören auf Gedanken
Ziel der so genannten Neurobionik ist es, Nervenfunktionen durch mikroelektronische Systeme zu ersetzen. «Der Einsatz ist beispielsweise bei der Steuerung von Prothesen, der Bekämpfung chronischer Schmerzen und bestimmter Nervenkrankheiten geplant», berichtet der Neurophysiologe Detlef Linke von der Universität Bonn. Dort arbeitet das Team um den Neuroinformatiker Rolf Eckmiller zusammen mit anderen Forschergruppen an einem Verfahren, Blinde mittels einer lernfähigen Spezialbrille wieder sehen zu lassen, die optische Signale direkt ans Hirn überträgt.
Zielgruppe sind Patienten mit Netzhautdegeneration. Bei der so genannten Retinitis pigmentosa sind die Zellen beschädigt, die Licht in elektrische Impulse umwandeln, die Nervenbahnen zum Gehirn sind hingegen noch intakt. Die Signale des in der Brille untergebrachten Sehprozessors werden dabei über eine implantierte Mikrokontaktfolie an die noch intakten Nervenzellen im Auge übermittelt. «In spätestens zehn Jahren haben wir eine Sehprothese im Handel», sagt Eckmiller. Auch in Tübingen laufen die Arbeiten daran seit Jahren: Dort will die Forschergruppe um Prof. Eberhart Zrenner von der Universitäts- Augenklinik den Ausfall der Netzhautzellen durch einen unter die Netzhaut implantierten Mikrochip mit Fotodioden ersetzen.
Wesentlich weiter sind die Wissenschaftler bereits beim Hörsinn: Cochlea-Implantate im Innenohr, die Schallsignale in elektrische Impulse an den Hörnerv umwandeln, sind bereits seit längerem im Einsatz. Aber die HNO-Spezialisten gehen inzwischen noch weiter: Menschen, deren Hörnerven nicht mehr funktionieren, wird eine elektronische Prothese direkt am Hirnstamm eingesetzt.
Was jedoch, wenn eine Querschnittslähmung oder eine schwere Krankheit wie die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) den Menschen in seinem eigenen Körper geradezu gefangen setzt? Hier kann die Kraft der Gedanken helfen. So ist eine Gruppe von Tübinger Medizinpsychologen um Prof. Niels Birbaumer seit Jahren dabei, Schwerstgelähmten beizubringen, durch Kontrolle der Hirnströme zu kommunizieren. In einem längeren Training lernen die Betroffenen, den niederfrequenten Anteil ihrer Hirnströme bewusst zu dirigieren und dadurch zwei vom Computer unterscheidbare Signale direkt aus dem Gehirn heraus zu erzeugen. Am Kopf angebrachte Elektroden lesen diese Signale ab.
Auch Berliner Forscher möchten Hirnströme nutzen, um Computer zu bedienen, Prothesen zu steuern oder bei Querschnittsgelähmten die gestörte Verbindung zwischen Gehirn und Muskulatur zu überbrücken. Dazu haben sie das so genannte Berliner Brain-Computer Interface (BBCI) entwickelt, ein gemeinsames Projekt von Neurologen am Campus Benjamin Franklin der Berliner Universitätsklinik Charité und Wissenschaftlern des Fraunhofer-Instituts für Rechnerarchitektur und Softwaretechnik. Der Unterschied zum Tübinger Biofeedback-Verfahren: Nicht der Mensch, sondern der Computer lernt.
Dabei machen sich die Spezialisten um den Neurologen Gabriel Curio und den Informatik-Experten Prof. Klaus-Robert Müller die Tatsache zu Nutze, dass bereits Sekundenbruchteile vor einer Handlung die entsprechenden Signale dazu im Gehirn gegeben werden. Dank speziell entwickelter Datenanalyse-Software gelingt es bereits nach kurzer Trainingsphase des Computers, aus der Masse der EEG-Hirnströme genau dasjenige Startsignal herauszufiltern, das beispielsweise den Mausklick des rechten Zeigefingers initiiert. «Es ist ähnlich wie bei einer Cocktailparty. Dort muss man auch aus zahlreichen Stimmen, Geschirrklappern, Musik oder Türenschlagen die Stimmen seines Gesprächspartners herausfiltern», erläutert Müller.
«Nach nur 20 Minuten schaffen es Testpersonen schon heute, einen Computercursor zu steuern, der für gelähmte Patienten künftig eine "mentale Schreibmaschine" ermöglichen könnte», berichtet Curio zufrieden. Bislang noch unpraktisch ist die aufwendige Hardware - 128 Kopfelektroden müssen für das EEG angebracht werden. «In fünf Jahren wird es kontaktlose EEGs geben, die man wie eine Baseballkappe aufzieht», sagt Curio. Und derartige alltagstaugliche Systeme könnten dann möglicherweise auch Gesunden «gedankenschnell» helfen: etwa eingebettet in Anticrash-Systeme im Auto.