Antikörper soll Sehnerv bei MS regenerieren oder schützen

05.07.2013 - Deutschland

Eine Entzündung des Sehnervs – Optikusneuritis – tritt in vielen Fällen als erstes Symptom einer Multiplen Sklerose (MS) auf. Bisher ist die mit der Entzündung einhergehende Zerstörung von Sehnervenfasern ebenso wenig behandelbar wie MS selbst. Zwar lässt sich bei Multipler Sklerose der Fortgang verzögern. Doch ganz gestoppt oder geheilt werden kann sie bisher nicht. Eine neue Option stellt der Einsatz spezieller Antikörper dar. Forscher sehen darin die Perspektive, dass sich der Sehnerv nach einer entzündlichen Schädigung regeneriert. Für eine frühe klinische Studie werden nun weltweit 90 Patienten gesucht, die ein halbes Jahr intensiv betreut und mit dem neuen Medikament behandelt werden.

Dass das von Prof. Tjalf Ziemssen geleitete Multiple-Sklerose-Zentrum der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden für diese Studie ausgewählt wurde, belegt den hervorragenden Ruf der Einrichtung. Den Ausschlag für das positive Votum gaben unter anderem die umfassende und innovative Versorgung von rund 1.000 MS-Patienten, eine Vielzahl an eigenen Forschungsprojekten sowie die am Dresdner Uniklinikum gepflegte enge interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Experten anderer Fachgebiete.

Patienten mit Multiple Sklerose leiden an schubweise auftretenden Entzündungsherden in Gehirn und Rückenmark. Die daraus resultierenden Schädigungen im zentralen Nervensystem lassen sich bisher nicht rückgängig machen. Denn diese Zellen können sich nicht aus eigener Kraft erholen. Die mangelnde Regenerationsfähigkeit der Nerven hat gute Gründe: In der Erneuerung liegt die Gefahr von Fehlbildungen, die das ganze System empfindlich stören könnten. Ganz anders bei der Haut des Menschen: Hier ist es lebenswichtig, dass sich beispielsweise Wunden schnell wieder verschließen – wie die dazu gebildete Haut aussieht, ist weniger entscheidend. Deshalb regeneriert sich die Haut schnell. Im Prinzip könnten das auch Nervenzellen oder die Isolationszellen der Nervenfasern. Doch die Natur hat dem ein Riegel vorgeschoben: Bestimmte Stoffe im Gehirn hemmen die Regeneration. So ist die Fähigkeit der Nerven blockiert, die sie umgebende Schutzschicht – das Myelin – zu bilden. Die Antikörper, die in der Studie überprüft werden, sollen nun den molekularen Schalter zur Myelin-Produktion umlegen. Dazu binden sie sich gezielt an die dafür verantwortlichen Hemmstoffe im Gehirn und neutralisieren diese. Wie diese monoklonalen Antikörper – das sind im Labor nach menschlichem Vorbild hergestellte Moleküle – bei einem Patienten ganz genau wirken, soll im Rahmen der Studie wissenschaftlich überprüft werden. Dazu bietet sich der Sehnerv besonders gut an, weil er besser als alle anderen Nervenstrukturen von außen problemlos einsehbar ist.

Augenärzte und Neurologen haben seit vielen Jahren große Erfahrungen in der Untersuchung dieses Nervs. Denn auch andere Erkrankungen wie der Grüne Star (Glaukom) können ihn schädigen, weshalb er bei Betroffenen regelmäßig untersucht werden muss. Dafür steht den Augenärzten zum Beispiel die Optische Kohärenztomografie zur Verfügung. Auch die Spezialisten des Dresdner MS-Zentrums verfügen über einen solchen Tomografen, der im Rahmen der Studie eingesetzt wird. Zusätzlich nutzen sie für weitere Augenuntersuchungen jedoch die Expertise der Ärzte der Klinik für Augenheilkunde des Dresdner Uniklinikums. Dessen Direktor Prof. Lutz Pillunat ist ein international renommierter Glaukom-Experte und verfügt über eine große Expertise zur Untersuchung und Beurteilung des Sehnervs, der nun im Mittelpunkt der MS-Studie steht. „Für mich erscheint es wesentlich erfolgsversprechender, die Regeneration des Sehnervs durch Aufhebung der körpereigenen Regenerationsblockade zu fördern, als Stammzellen einzusetzen, die beim MS Patienten noch nie positive Effekte zeigen konnten und mit deutlichen Risiken verbunden sind“, so Prof. Ziemssen.

Entzündeter Sehnerv gibt erste Hinweise auf Multiple Sklerose

Die MS entwickelt sich schleichend – anfangs werden die Symptome gar nicht in Verbindung mit dieser Erkrankung gebracht. Wenn jedoch junge Erwachsene unter einer Optikusneuritis – dem entzündeten Sehnerv – leiden, ist das ein wichtiges Indiz für diese Erkrankung. Das MS-Zentrum wird dann regelmäßig hinzugezogen, um eine verlässliche Diagnose zu stellen. Die jetzt beginnende Studie zu dem Antikörper „Anti.LINGO-1“ fokussiert sich auf diese Patienten, bei denen als erstes Symptom eine Sehnervenentzündung aufgetreten ist. Nach eingehenden Untersuchungen und Tests erhalten die Patienten in einem ersten Schritt Infusionen mit entzündungshemmenden Medikamenten. Parallel erfolgt bei denjenigen, die für die Studie ausgewählt werden, eine 20-wöchige Behandlungsphase, in der sie alle vier Wochen das neue regenerationsfördernde Medikament oder alternativ ein Placebo erhalten. Mit diesen sogenannten Doppelblind-Studien werden die Faktoren minimiert, die die zum Teil auch subjektiven Urteile der Patienten und Ärzte beeinflussen könnten. Denn während und nach der Medikamentengabe werden auch der allgemeine Gesundheitszustand sowie mögliche Verbesserungen des entzündungsbedingt eingeschränkten Sehvermögens durch Patient und Arzt beurteilt.

Das Multiple-Sklerose-Zentrum der Klinik für Neurologie

Seit seiner Gründung vor sechs Jahren ist das MS-Zentrum stetig gewachsen – heute behandeln die Neurologen des Klinikums pro Jahr mehr als 1.000 Patienten. Als eine der bundesweit größten und renommiertesten Einrichtungen dieser Art verknüpft das Zentrum die ambulante medizinische Versorgung der Patienten mit einem umfangreichen psychosozialen Beratungsangebot und einer regen Forschungstätigkeit. In Deutschlands größtem, 2013 zum zweiten Mal erschienenem Krankenhausvergleich des Nachrichtenmagazins „Focus“ konnte das MS Zentrum Dresden vor allem durch die Kombination dieser Versorgungsangebote erneut einen bundesweiten Spitzenplatz belegen. Die 2011 bezogenen Räume im ABAKUS-Gebäude an der Blasewitzer Straße bieten Patienten, Ärzten und Forschern auf knapp 600 Quadratmetern eine optimale Infrastruktur. „Größe und Aufbau eines solchen Zentrums sind entscheidend für dessen Erfolg“, sagt Prof. Ziemssen mit Blick auf die mittlerweile sechsjährige Geschichte der Einrichtung. Am neuen Standort ist unter anderem eine engere Verknüpfung verschiedener Forschungsvorhaben der Klinik für Neurologie möglich. Auch ist das MS-Zentrum zu einem wichtigen Partner bei der Fortbildung von MS-Ärzten geworden: Über 200 Neurologen aus Lateinamerika, Nordamerika, Europa und arabischen Ländern nahmen in den Jahren 2012 und 2013 an Schulungsprogrammen des MS-Zentrums der Klinik für Neurologie teil.

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