Stress-Gene aus dem Lot: Max-Planck-Forschern gelingt Risikovorhersage für Alkoholismus
Alkoholismus ist eine schwere, bis heute unheilbare Krankheit, die in den Industrie-Nationen eine Häufigkeit von bis zu 20% der erwachsenen Bevölkerung erreicht. Unter dem Begriff Alkoholismus werden schwerer Missbrauch und Abhängigkeit zusammengefasst. „Die Behandlung des Alkoholismus wird durch eine extrem hohe Rückfallrate nach körperlicher Entgiftung und selbst nach monatelanger Entwöhnungstherapie erschwert“, erklärt Hannelore Ehrenreich, die am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin die Division Klinische Neurowissenschaften leitet.
Bei Menschen, welche an chronischen Krankheiten leiden, etwa schweren Hautkrankheiten, Rheuma, Schizophrenie oder Depression, ergeben sich sogar Häufigkeiten für Alkoholismus von weit über 30%. „Man kann sich unschwer vorstellen, dass Alkoholismus zusätzlich zu einer bereits behindernden Grundkrankheit katastrophale Auswirkungen für den Krankheitsverlauf und die individuelle Situation eines Betroffenen hat“, so die Medizinerin.
Jede schwere Krankheit bedeutet für einen Menschen eine extreme Belastung, gleichzusetzen mit einer massiven chronischen Stress-Situation. Die Entwicklung eines komorbiden Alkoholismus unter diesen Bedingungen kann demnach als verhängnisvoller Versuch gewertet werden, mit dem Stress umzugehen. Alkohol wird als leicht verfügbares Mittel eingesetzt, um innere und äußere Spannungen und negative Emotionen im Sinne einer Selbstbehandlung anzugehen.
Für die individuelle Antwort auf Stress ist grundsätzlich die genetische Konfiguration der biologischen Stressachse, insbesondere das sogenannte CRF-System von ganz entscheidender Bedeutung. Essenzielle Bestandteile dieses Systems sind der Corticotropin Releasing Factor (CRF) selbst – ein Hormon, das vor allem im Zwischenhirn, dem Hypothalamus gebildet wird –, seine Rezeptoren (CRFR), d.h. die spezifischen Bindungsstellen an der Zelloberfläche, welche die Wirkungen von CRF vermitteln, und ein CRF-bindendes Protein (CRFBP), welches die Funktion hat, etwa zuviel produzierten CRF abzufangen.
Demnach spielt die Balance zwischen dem Rezeptor (CRFR) und dem CRF-bindenden Protein (CRFBP), die beide um die Bindung des Hormons konkurrieren, eine Schlüsselrolle für den Grad der Stressantwort, die ein Individuum entfaltet. „Wüsste man vorher, wie ausgeprägt die Stressantwort einer Person, und wie hoch somit das Risiko ist, unter entsprechenden Bedingungen Alkoholismus zu entwickeln, dann könnten gezielte prophylaktische und therapeutische Maßnahmen ergriffen werden“, sagt Ehrenreich.
Katja Ribbe und ihre Kollegen vom Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen sind genau dieser Frage nachgegangen. Dazu untersuchten sie Patienten der GRAS-Datensammlung (Göttingen Research Association for Schizophrenia), welche an einer Schizophrenie leiden. „Im Grunde dienten uns bei dieser wissenschaftlichen Fragestellung schizophrene Patienten als Modellpopulation für chronisch gestresste Menschen. Anhand dieser Modellpopulation wollten wir prüfen, ob Beziehungen zwischen genetischen Varianten innerhalb des CRF-Systems und einer Veranlagung zum Alkoholismus bestehen“, erläutert Ribbe.
Und tatsächlich gelang es den Wissenschaftlern, erstmals eine derartige Interaktion nachzuweisen: Danach besitzen bestimmte genetische Varianten des CRF-Systems, nämlich CRFR1 und CRFBP in Kombination, einen hohen Vorhersagewert bezüglich des Risikos von komorbidem Alkoholismus. Die Autoren replizierten ihren Befund überdies in einer kleinen Kontrollgruppe von Patienten mit anderen psychiatrischen Erkrankungen. Aus ihren Ergebnissen schließen die Forscher, dass die gefundene Risikokonstellation vermutlich ganz generell auf andere chronisch gestresste Menschen und andere Krankheitsgruppen übertragbar ist.
„Bei der genannten Risikokonstellation führen die genetischen Varianten von CRFR1 und CRFBP dazu, dass die Balance zwischen Rezeptor und Bindungsprotein so eingestellt ist, dass es schon spontan zu einer hyperaktiven Stressachse kommt“, sagt Ehrenreich: „Anders ausgedrückt, Menschen, die diese genetische Kombination aufweisen, stehen praktisch immer stärker ’unter Strom’, und sind bei chronischen Stress-Situationen weit mehr gefährdet, komorbiden Alkoholismus zu entwickeln, als Menschen mit allen anderen Kombinationen dieser Gene.“
Auf der Basis dieser Studie ergibt sich also künftig die Möglichkeit, Risikopatienten zu identifizieren und mit entsprechenden prophylaktischen und therapeutischen Maßnahmen zu behandeln. „Im Grunde ist die vorliegende Untersuchung ein prototypischer Schritt zur Entwicklung künftiger individualisierter Therapieansätze“, so Ehrenreich.