Möglicher Ansatzpunkt für Therapie bei Multipler Sklerose: Reversibler Schädigungsvorgang entdeckt

29.03.2011 - Deutschland

Das Immunsystem soll Krankheitserreger und Giftstoffe im Körper beseitigen. Zu Autoimmunerkrankungen kommt es, wenn stattdessen körpereigenes Material angegriffen wird. Eines der häufigsten autoimmun bedingten Leiden ist die Multiple Sklerose, kurz MS. Bei dieser schweren, meist in Schüben verlaufenden Erkrankung bilden sich in Gehirn und Rückenmark ausgedehnte entzündliche Veränderungen, in welchen die langen Fortsätze der Nervenzellen – die Axone – zerstört werden. Ein Forscherteam um den LMU-Mediziner Professor Martin Kerschensteiner vom Klinikum der Universität München und Professor Thomas Misgeld von der TU München konnte nun aufklären, wie es zu dieser Schädigung kommt.

Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Entzündung im Nervensystem eine bislang unbekannte Form der Axondegeneration – die „focal axonal degeneration“ oder FAD – auslösen kann. Weil der Prozess in frühen Stadien reversibel ist, sehen ihn die Forscher als potenziellen Ansatzpunkt für eine therapeutische Intervention. „Bis dahin ist es aber auf jeden Fall ein sehr weiter Weg“, betont Kerschensteiner. „Wir verstehen die zugrunde liegenden molekularen Mechanismen bisher nur in Ansätzen, und therapeutisch wirksame Substanzen müssen natürlich erst in sehr aufwendigen Versuchsreihen entwickelt und getestet werden.“

Die Multiple Sklerose ist eine häufige, in vielen Fällen schwer verlaufende Autoimmunerkrankung, die Symptome wie den Verlust der Sehfähigkeit, schwerwiegenden Bewegungsstörungen sowie Taubheitsgefühle und Einschränkungen der Blasenfunktion hervorrufen kann. Wie stark diese und andere Symptome zu bleibenden Funktionseinschränkungen führen, hängt maßgeblich davon ab, wie viele Nervenzellfortsätze (Axone) im Krankheitsverlauf geschädigt werden. Bisher wurde die Zerstörung der schützenden Myelinscheide als Voraussetzung für den Untergang der Axone angesehen. Die fettreiche Isolierschicht dieser Myelinscheide umgibt die langen Nervenzellfortsätze.

Das Team um Kerschensteiner und Misgeld ging der Frage nach, wie genau es zur Schädigung der Axone kommt. „Wir haben einen Mikroskopie-Ansatz entwickelt, mit dessen Hilfe wir genetisch mit einem Farbstoff markierte Axone direkt im Tiermodell beobachten können“, berichtet Misgeld. Bei Mäusen, die an einem Tiermodell der Multiplen Sklerosen erkrankt waren, konnten die Forscher sehen, dass auch geschädigte Axone häufig noch von einer intakten Myelinscheide umhüllt sind. Die Zerstörung der Isolierschicht kann damit zumindest nicht die einzige Ursache für die Schädigung der Axone sein.

Vielmehr ist ein bislang unbekannter Mechanismus für die Schädigung verantwortlich: Die „focal axonal degeneration“, kurz FAD, kann Axone auch dann absterben lassen, wenn sie noch von einer schützenden Myelinscheide umgeben sind. Dieser Prozess könnte auch zu der für die bei der MS charakteristischerweise vorübergehende spontane Besserung der Beschwerden beitragen: „Die frühen Stadien der Axondegeneration sind spontan reversibel, also umkehrbar“, sagt Kerschensteiner. „Das führt uns zu einem besseren Verständnis der Erkrankung, lässt uns aber auch auf neue Wege in der Behandlung hoffen. Denn ein reversibler Prozess könnte sich möglicherweise therapeutisch beeinflussen lassen.“


Von den ersten Ergebnissen in der Grundlagenforschung bis zu einer tatsächlichen Therapie vergehen – auch im Erfolgsfall – viele Jahre. Denn zunächst müssen die molekularen Details des krankmachenden Prozesses aufgeklärt werden. Hier ist bereits bekannt, dass Sauerstoff- und Stickstoffradikale eine entscheidende Rolle als Auslöser des Axonuntergangs spielen können: Sie werden von Immunzellen produziert und attackieren die Mitochondrien, die Energie erzeugenden zellulären „Kraftwerke“ in den Nervenzellfortsätzen, was diese in den Untergang treiben kann.

„Zumindest im Tiermodell konnten wir diese Radikale medikamentös neutralisieren und so die Erholung der vorgeschädigten Axone verbessern“, sagt Kerschensteiner. Weiterführende Untersuchungen an menschlichem Gewebe, die in Zusammenarbeit mit Spezialisten der Universitäten Göttingen und Genf erfolgten, lieferten vielversprechende Ergebnisse: Die charakteristischen Stadien des neu gefundenen Degenerationsprozesses lassen sich auch im Gehirn von menschlichen Patienten mit Multipler Sklerose nachweisen, sodass die Behandlungsstrategie auch hier eine Wirkung zeigen könnte.

Das bedeutet aber nicht, dass schon in Kürze mit einer Therapie gerechnet werden kann: Die in den Versuchen eingesetzten Wirkstoffe sind für einen klinischen Einsatz nicht spezifisch und vor allem nicht verträglich genug. „Bevor geeignete therapeutische Strategien entwickelt werden können, müssen wir außerdem erst im Detail klären, wie die Schädigung auf molekularer Ebene abläuft“, sagt Kerschensteiner. „Dabei wollen wir auch untersuchen, ob verwandte Mechanismen in den chronischen Stadien der Multiplen Sklerose eine Rolle spielen.“ (göd)

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