Komplettes Erbgut von 40 Zwillingspaaren als Schlüssel zur medizinischen Forschung

Mammut-Projekt soll Ursachen chronischer Darmerkrankungen aufdecken

16.12.2010 - Deutschland

Rund 300.000 Menschen sind in Deutschland derzeit an den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa erkrankt. Meist treten diese Krankheiten im Lebensalter von 20 bis 30 Jahren auf. Aber auch Kleinkinder und Jugendliche sind betroffen. Auf der Suche nach erblichen Ursachen chronisch entzündlicher Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa hat der deutsche Exzellenzcluster zur Erforschung von "Entzündungen an Grenzflächen" ein bisher einzigartiges Mammut-Projekt gestartet. Die Schlüsselrolle spielen dabei 40 Zwillingspaare, bei denen ein Zwilling an einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung Morbus Crohn leidet, während der andere gesund ist.

Im Verlauf des Forschungsvorhabens soll das Erbgut der 40 Zwillingspaare komplett entschlüsselt werden, um der Krankheitsursache auf die Schliche zu kommen und neue Therapien zu finden. Um die Datenfülle dieser insgesamt 80 Menschen zu bewältigen, laufen die vom Human Genome Project bekannten sogenannten Sequenzer drei Jahre lang rund um die Uhr auf Hochtouren. Bisher wurden bereits rund acht Millionen Euro in das Projekt, vor allem für Hard- und Software, investiert.

Zwei Drittel der Zwillingspaare aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden nach Hamburg ins Asklepios Westklinikum Rissen eingeladen, wo ihnen Spezialisten per Darmspiegelung eine Schleimhautprobe zur weiteren Untersuchung entnahmen. Den übrigen Zwillingspaaren wurden die Proben am Heimatort entnommen. Die Proben werden in den Laboratorien der Kieler Christian-Albrechts-Universität analysiert und der genetische Code erkrankter und gesunder Probanden Abschnitt für Abschnitt verglichen. Dabei kommen die neuesten genetischen Technologien zum Einsatz. Es ist geplant, sowohl das sogenannte Mikrobiom (Summe aller Bakterien auf der Darmoberfläche) als auch das Genom (die Erbsubstanz) der Zwillinge vollständig vergleichend zu sequenzieren.

Entscheidender Durchbruch im Verständnis der auslösenden Ursachen erwartet

"Von der Exploration der Zwillingskohorte mit modernen genetischen Methoden erwarten wir uns einen entscheidenden Durchbruch im Verständnis der auslösenden Ursachen, sowohl was die Genetik angeht als auch was die Faktoren des Lebensstils betrifft", sagt Prof. Dr. Stefan Schreiber, der wissenschaftliche Projektleiter an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel: "Trotzdem können wir nicht genügend Zwillinge für die Forschung zur Verfügung haben. Diese Experimente erfordern einen unglaublichen technologischen Aufwand aber leider auch sehr große Fallzahlen." "Wir wären froh, wenn es uns gelänge, noch möglichst viele weitere Zwillingspaare zu rekrutieren", ergänzt Prof. Dr. Andreas Raedler, der klinische Projektleiter am Asklepios Westklinikum Hamburg.

In der Epidemiologie waren Zwillinge schon immer interessant: Das Experiment der Natur, in dem zweieiige Geschwisterkinder in derselben Gebärmutter entstehen oder eineiige Zwillinge weitgehend das gleiche Erbmaterial tragen, lässt eine Abschätzung des erblichen Anteils von Krankheiten zu. Bei Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa legt die sogenannte Konkordanz von fast 56 Prozent (Morbus Crohn, eineiige Zwillinge) gegenüber vier Prozent (zweieiige Zwillinge) ein klares Zeugnis der genetischen Ursachen ab. Im Umkehrschluss zeigen die Daten aber auch, dass trotz genetisch (fast) gleicher Voraussetzungen in 44 Prozent der Fälle nicht beide Zwillinge die gleiche Krankheit entwickeln. Es muss also im Leben dieser Zwillinge klare Hinweise auf auslösende Umweltfaktoren geben.

Lebenslauf-Analysen von 200 Zwillingspaaren lieferten erste Hinweise

Die Zwillingsforschung der Christian-Albrechts-Universität Kiel und des Asklepios Westklinikums Hamburg greift auf eine eindrucksvolle Kohorte von fast 200 ein- und zweieiigen Zwillingspaaren zurück, von den jeweils ein Zwilling an einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung leidet. In einem ersten Schritt wiesen Analysen der Lebensläufe der Zwillinge darauf hin, dass die individuelle Prägung, zum Beispiel durch Infektionskrankheiten, eine entscheidende Rolle als Krankheitsauslöser spielt. In weiteren Analysen fanden die Forscher Beweise für die besondere Rolle der Darmflora und der Genexpression in der Darmschleimhaut bei der Krankheitsentstehung.

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