HIV-Heilung an der Charité: Der zweite Berliner Patient

Einem Charité-Team gelingt abermals eine offenbar vollständige Entfernung des HI-Virus aus dem Körper eines Patienten

22.07.2024
© National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID)

Kolorierte elektronenmikroskopische Aufnahme einer T-Zelle (Immunzelle), die von HI-Viruspartikeln (gelb) infiziert worden ist

Er ging in die Medizingeschichte ein: Der Berliner Patient, der nach einer Stammzelltransplantation an der Charité – Universitätsmedizin Berlin 2008 als weltweit erster von einer HIV-Infektion geheilter Mensch galt. Jetzt ist dieser äußerst seltene medizinische Erfolg einem Team der Charité ein weiteres Mal gelungen. Bei dem zweiten Berliner Patienten ist seit mehr als fünf Jahren trotz fehlender antiviraler Therapie kein HI-Virus mehr nachweisbar. Das Besondere an dem Fall: Das Team nutzte eine von bisherigen HIV-Heilungen abweichende Behandlungsmethode. Sie macht eine neue Erklärung des Heilungsmechanismus nötig.

Die Therapiemöglichkeiten bei einer HIV-Infektion haben enorme Fortschritte gemacht, bei guter Behandlung ist für die Betroffenen heutzutage ein weitgehend normales Leben möglich. Dennoch gilt eine HIV-Infektion als nicht heilbar – normalerweise. In äußerst seltenen Fällen ist es mithilfe einer Stammzelltransplantation gelungen, das HI-Virus aus dem Körper zu entfernen.

Infrage kommt eine Stammzelltransplantation nur für jene Patient:innen, die zusätzlich zur HIV-Infektion auch an bestimmten Formen von Blut- oder Lymphknotenkrebs erkranken und bei denen sich diese Krebserkrankung nicht allein mit einer Strahlen- oder Chemotherapie eindämmen lässt. Bei dem Eingriff werden Stammzellen einer gesunden Person auf den erkrankten Menschen übertragen und damit praktisch sein Immunsystem ausgetauscht. So lässt sich nicht nur der Krebs bekämpfen, sondern auch das HI-Virus. Bisher nahm man an, dass dafür ein Stammzellspender mit ganz spezifischen genetischen Merkmalen gefunden werden muss.

Die Rolle der HIV-Andockstelle CCR5

Denn um sich zu vermehren, befällt das HI-Virus verschiedene Immunzellen und benötigt dafür eine bestimmte Andockstelle, den sogenannten CCR5-Rezeptor. Etwa ein Prozent der europäischstämmigen Bevölkerung verfügt über einen CCR5-Rezeptor mit der sogenannten Delta-32-Mutation, die das Eindringen des HI-Virus verhindert und die Träger natürlicherweise immun gegen HIV macht. Gelingt es, einen Stammzellspender zu finden, dessen Gewebeeigenschaften zum Empfänger passen und der die immunitätsstiftende Mutation trägt, kann eine Stammzelltransplantation neben dem Krebs auch die HIV-Infektion besiegen.

Dass dieses Prinzip funktioniert, belegte ein Behandlungsteam der Charité bereits 2008 anhand des sogenannten Berliner Patienten. Vier weitere Personen sind seither weltweit auf dieselbe Art und Weise behandelt worden und gelten als von HIV geheilt. Jetzt ist es der Berliner Universitätsmedizin ein zweites Mal gelungen, bei einem Menschen sowohl eine akute myeloische Leukämie (AML) als auch eine HIV-Infektion erfolgreich zu therapieren – allerdings mit einer leicht veränderten Methode. Der Fall soll am 24. Juli auf der Welt-Aids-Konferenz in München der Fachwelt vorgestellt werden.

Behandlung des zweiten Berliner Patienten

Der heute 60-Jährige war 2009 positiv auf HIV getestet worden, 2015 wurde zusätzlich eine AML diagnostiziert. Ein Team an der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie der Charité übernahm die Behandlung der Leukämie. Das Risikoprofil des Patienten machte zusätzlich zur Chemotherapie auch eine Stammzelltransplantation notwendig.

„Weil es für die Stammzellspende leider keine geeignete HIV-immune Person gab, haben wir eine Spenderin ausfindig gemacht, die auf ihren Zellen neben der normalen Version des CCR5-Rezeptors zusätzlich auch die mutierte Version der Andockstelle trägt“, erklärt Prof. Olaf Penack, Oberarzt an der behandelnden Klinik. „Das ist der Fall, wenn ein Mensch die Delta-32-Mutation nur von einem Elternteil vererbt bekommt. Das Vorhandensein beider Rezeptor-Versionen verleiht allerdings keine Immunität gegen das HI-Virus.“

Dass die Stammzelltransplantation gegen das HI-Virus dennoch erfolgreich war, zeigte sich, nachdem der Patient 2018 aus eigenen Stücken die empfohlene antivirale Therapie absetzte. In der umfassenden Verlaufskontrolle konnte das Behandlungsteam bis zum heutigen Tage keinerlei Hinweise auf Virus-Reste finden. Das Immunsystem des Patienten ist funktional, auch Krebszellen sind nicht nachweisbar. „Der Patient ist in erfreulich guter gesundheitlicher Verfassung“, sagt Olaf Penack. „Die jetzt mehr als fünfjährige virusfreie Beobachtungszeit deutet darauf hin, dass das HI-Virus aus dem Körper des Patienten tatsächlich komplett entfernt werden konnte. Wir sehen ihn deshalb als von seiner HIV-Infektion geheilt an.“

Heilung auch ohne HIV-Immunität der Stammzellspenderin

„Dass die Heilung gelang, obwohl die Stammzellspenderin nicht immun gegen das HI-Virus war, ist äußerst überraschend“, betont Prof. Christian Gaebler, HIV-Experte und Arbeitsgruppenleiter an der Klinik für Infektiologie und Intensivmedizin der Charité und dem Berlin Institute of Health in der Charité (BIH). Er hat den Fall aus infektiologischer Sicht analysiert. „Bisherige Stammzelltransplantationen ohne immunen Spender führten dazu, dass sich das HI-Virus nach wenigen Monaten wieder vermehrte.“

Der zweite Berliner Patient beweist, dass eine HIV-Heilung trotz funktionierender Andockstelle für das Virus möglich ist. „Das bedeutet, dass die Heilung wohl nicht auf die genetische CCR5-Ausstattung der Stammzellspenderin zurückzuführen ist, sondern darauf, dass die transplantierten Immunzellen der Spenderin alle HIV-infizierten Zellen des Patienten beseitigt haben“, erklärt Christian Gaebler. „Mit dem Austausch des Immunsystems haben wir offenbar alle Virus-Verstecke zunichte gemacht, sodass das HI-Virus die gespendeten, neuen Immunzellen nicht mehr infizieren konnte.“

Welche Faktoren haben zur Heilung beigetragen?

Warum die Stammzelltransplantation in diesem Fall zu einer Heilung geführt hat, während das Virus sich bei vergleichbaren Fällen wieder vermehrte, ist noch unklar. Die Forschenden ziehen mehrere potenzielle Faktoren in Betracht. „Möglicherweise hat die Geschwindigkeit einen Einfluss, mit der das neue Immunsystem das alte ersetzt“, sagt Christian Gaebler. „Beim zweiten Berliner Patienten war dies mit unter 30 Tagen vergleichsweise schnell abgeschlossen. Vielleicht verfügt aber auch das Immunsystem der Spenderin über besondere Eigenschaften, wie beispielsweise besonders aktive natürliche Killerzellen, die dafür sorgen, dass schon eine geringe HIV-Aktivität erkannt und beseitigt wird.“

Von der Aufklärung des Heilungsmechanismus beim zweiten Berliner Patienten und potenziellen weiteren Fällen versprechen sich die Forschenden neue Schlüsse für die zukünftige Behandlung von Menschen mit HIV. „Unser Ziel ist weiterhin, HIV-Infektionen in Zukunft nicht nur im Einzelfall, sondern in der Breite heilen zu können“, sagt Christian Gaebler. „Aufgrund der erheblichen Risiken, die mit einer Stammzelltransplantation verbunden sind, eignet sich dieses Verfahren jedoch nicht für den Einsatz bei allen HIV-Infektionen. Sobald wir besser verstehen, welche Faktoren beim zweiten Berliner Patienten zur Entfernung aller HIV-Verstecke beigetragen haben, lassen sich die Erkenntnisse hoffentlich für die Entwicklung neuartiger Behandlungskonzepte wie zum Beispiel zellbasierter Immuntherapien oder therapeutischer Impfstoffe nutzen.“

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