Coronavirus erreicht Deutschland

Von Wuhan nach Stockdorf

29.01.2020 - Deutschland

(dpa) Für die meisten Menschen in der oberbayerischen Kleinstadt Gauting ist die chinesische Millionenmetropole Wuhan meilenweit weg. Doch das ändert sich schlagartig, als bei einem Mitarbeiter eines ortsansässigen Autozulieferers das neue Coronavirus festgestellt wird - es ist der erste Fall in Deutschland. Schon wenige Stunden später tummeln sich vor der Zentrale der Firma Webasto im 4000-Einwohner-Ortsteil Stockdorf Kamerateams, in den örtlichen Apotheken gibt es am Dienstag einen Run auf Mundschutzmasken und Desinfektionsmittel. Schon am Dienstagabend werden drei weitere Fälle im Zusammenhang mit dem ersten bekannt.

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Symbolbild

Auch diese seien Webasto-Mitarbeiter und arbeiteten wie rund 1000 andere in der Zentrale aus dem Landkreis Starnberg, bei der der erste Betroffene beschäftigt sei, berichten ein Sprecher des bayerischen Gesundheitsministeriums in München und die Firma am Dienstagabend. «Es wurde entschieden, dass auch die drei neuen Patienten in der München Klinik Schwabing stationär aufgenommen und dort medizinisch überwacht und isoliert werden», teilt das Ministerium weiter mit. «Bei einigen weiteren Kontaktpersonen läuft derzeit ein Test, ob auch hier eine Infizierung mit dem Coronavirus vorliegt.» Weitere Informationen sollten am Mittwoch folgen. Webasto schließt vorsichtshalber den Standort Stockdorf vorübergehend bis Sonntag.

Die ersten bestätigten Fälle in Deutschland lassen die Verantwortlichen rödeln. «Unsere Nacht war relativ kurz», erzählt der Präsident des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), Andreas Zapf, am Dienstag. Um 20.30 Uhr am Montagabend wird er darüber informiert, dass der Bayer positiv auf das Coronavirus getestet worden ist. Seitdem glühen die Drähte. Kurz vor Mitternacht informiert das bayerische Gesundheitsministerium die Öffentlichkeit, wenige Stunden später platzt das Foyer des Ministeriums aus allen Nähten.

Auf der Pressekonferenz zeichnen Fachleute den Weg nach, den das Virus mit dem vorläufigen Namen 2019-nCoV auf seinem Weg nach Deutschland genommen hat: Am 16. Januar bekommt in Shanghai eine chinesische Mitarbeiterin der Firma Webasto Besuch von ihren Eltern aus der vom neuen Coronavirus besonders betroffenen Region Wuhan. Drei Tage später macht sie sich auf den Weg zum Hauptsitz ihrer Firma in Deutschland. Am 21. Januar nimmt sie dort, im Gautinger Ortsteil Stockdorf, an einer Schulung teil. Da ging es ihr den Angaben zufolge noch gut.

Erst auf ihrem Rückflug nach China am 23. Januar fühlt die Frau sich grippig, geht zuhause zum Arzt - und wird positiv auf das Coronavirus getestet. Am Montag, den 27. Januar, erfährt die Firmenleitung in Deutschland von dem Befund. Sie handelt rasch und informiert die Kollegen. Ein Mitarbeiter, der gemeinsam mit der Frau an der Schulung teilgenommen und in einer Kleingruppe zusammengearbeitet hat, lässt sich testen. Er hatte sich am Wochenende laut Zapf «grippig gefühlt, eher so im Sinne einer schweren Bronchitis».

Und tatsächlich: Der Test ist positiv. Der Familienvater kommt umgehend ins Klinikum Schwabing, wird dort in einem Isolierzimmer mit Schleuse und Unterdruck von den Ärzten akribisch überwacht - dabei ist er inzwischen wieder fit. Ein «Gesunder» auf der Isolierstation - diese ungewöhnliche Situation lässt den behandelnden Chefarzt Clemens Wendtner scherzen: «Er ist wach, ansprechbar und ich würde auch das Statement wagen, dass er außer Lebensgefahr ist.» Der Patient habe weder Fieber noch Husten, es gehe ihm «sehr gut».

Dennoch muss der Mann auf zunächst unbestimmte Zeit auf der Isolierstation bleiben. «Wir können noch nicht mit Sicherheit sagen, wie lange das Virus von dem Erkrankten, wenn er denn gesund ist, weiter übertragen wird», erläutert Zapf. Das Virus ist noch so neu, dass die Mediziner so manches nicht wissen. Relativ selten ist eine solche Übertragung auch: Weltweit sind bislang nur drei weitere Fälle bekannt bei dem sich außerhalb Chinas ein Mensch bei einem anderen angesteckt hat - das geschah in Japan, Vietnam und Taiwan. Die meisten Menschen hatten zudem bereits Symptome, als sie andere ansteckten.

Im Laufe des Tages werden in Deutschland weitere Verdachtsfälle gemeldet. Während die Labors in den anderen Bundesländern noch die Proben untersuchen, konzentrieren sich die Behörden im Freistaat auf rund 40 Personen, mit denen der deutsche Patient und die Chinesin engeren Kontakt hatten. Darunter sind nicht nur Kollegen, sondern auch die Familie des Mannes - sie sollen während der Inkubationszeit von bis zu 14 Tagen zu Hause bleiben. Im Blick haben die Verantwortlichen auch eine Kinderkrippe im Landkreis Landsberg am Lech, die das kleine Kind des Patienten besucht. «Wir sehen derzeit keine Veranlassung dazu, die Krippe zu schließen», betont ein Sprecher des Landratsamts. «Weder die Frau noch das Kind des Patienten sind bisher erkrankt.»

Bei der betroffenen Firma gehen die Mitarbeiter am Dienstag noch ein und aus - die Entscheidung über die vorübergehende Schließung erfolgt erst am Abend, nachdem die drei weiteren Fälle bekanntwerden. Nach außen hin herrscht beim Autozulieferer Webasto zuvor normaler Betrieb, auch wenn der eine oder andere am Eingang zur eigens bereit gestellten Händedesinfektion greift. Die meisten Mitarbeiter wollen sich nicht zu dem Fall äußern. «Kein Kommentar», heißt es immer wieder. Eine Mitarbeiterin sagt, es herrsche «ganz normaler Betrieb». Allerdings gebe es auch Verunsicherung. Eine andere berichtet, es sei sehr ruhig, offenbar seien tatsächlich viele daheim geblieben.

Die Apotheken in Gauting und im gesamten Würmtal erleben einen Ansturm. Gefragt wird nach Desinfektionsmitteln, vor allem aber nach Atemschutz - ausverkauft. Solche Masken machen jedoch keinen Sinn, wie der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, Bernd Salzberger von der Uniklinik Regensburg, betont. Die sogenannten chirurgischen Gesichtsmasken seien nicht zum Schutz vor Ansteckungen gemacht, sondern sollten nur verhindern, dass infektiösen Tröpfchen aus der Atemluft des Chirurgen in die Operationswunde gelangen. «Aber der Schutz vor einer Infektion von außen ist sehr, sehr schlecht damit», erklärt Salzberger. Auch Martin Hoch, Leiter der Task-Force Infektiologie am LGL betont, dass die normale Händehygiene und «Hustenetikette» ausreiche.

In seiner Spezialeinheit gibt es für Fälle wie den aktuellen einen ganz konkreten Alarmplan mit mehreren Eskalationsstufen. Stufe eins: Ärzte im ganzen Land werden informiert und sensibilisiert. Das fand schon in der vergangenen Woche statt. Mit dem ersten bestätigten Fall ist eine weitere Eskalationsstufe erreicht: Nun werden beispielsweise Informationsscreens am Flughafen geschaltet - auch in chinesischer Sprache. Eskalationsstufe drei ist es dann, wenn Kontrolleure sich die ankommenden Passagiere, ganz genau anschauen und etwa per Fern-Thermometer die Temperatur messen.

Über solche Maßnahmen sprechen am Dienstag auch die Gesundheitsminister der Länder miteinander. Im Anschluss teilt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit, dass die Piloten bei Flügen aus China künftig vor dem Landen an deutschen Flughäfen den Tower über den Gesundheitszustand der Passagiere informieren müssen. Reisende aus China sollen zudem Formulare ausfüllen, wie sie in den nächsten 30 Tagen zu erreichen sind - damit sollen in Infektionsfällen Kontaktpersonen ausfindig gemacht werden können.

Im Hauptverbreitungsland China sind bereits mehr als 100 Menschen an der Infektion gestorben - die meisten davon waren ältere Patienten mit schweren Vorerkrankungen. Die Gesamtzahl der weltweit bekannten Erkrankungen ist inzwischen auf mehr als 4500 gestiegen.

Viele Länder holen ihre Staatsangehörigen aus Wuhan zurück - so etwa Großbritannien, Belgien, Japan, Südkorea, Frankreich und die USA. Auch die Bundesregierung bereitet einen Evakuierungsflug vor, um ausreisewillige Deutsche aus Wuhan auszufliegen.

Bei aller Vorsicht machen die Verantwortlichen immer wieder klar: «Die Gefahr für die Gesundheit der Menschen in Deutschland bleibt nach unserer Einschätzung weiterhin gering», wie etwa Gesundheitsminister Spahn am Dienstag betont. «Für übertriebene Sorge gibt es keinen Grund.»

Auch Chefarzt Wendtner hält eine ganz andere Gefahr für viel größer. «Aus meiner Sicht wäre dieser Fall Anlass genug, noch mal die Grippeschutzimpfung in den Vordergrund zu rücken.» Denn selbst wenn in den nächsten Wochen weitere Menschen in Deutschland am Coronavirus erkranken sollten - an der Influenza starben in der Saison 2017/2018 bundesweit rund 25.000 Patienten.

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