Pharmaunternehmen in Europa stehen vor großen Veränderungen in Marketing und Vertrieb
Regulierungen und Kostendruck beschleunigen den Strukturwandel
Zunehmende ordnungspolitische Regulierung, fragmentierte Zielgruppen und verstärkter Kostendruck stellen die Marktteilnehmer vor neue Herausforderungen. Wer nicht über ausreichende Kapitalisierungsmöglichkeiten verfügt, keine neuen Produkte besitzt und sich nicht auf die neuen Rahmenbedingungen einstellt, gehört zu den Verlierern. Fast dreiviertel der Befragten stimmten der Aussage zu, dass große Unternehmen Biotech- und kleinere Pharmahersteller akquirieren und sich so einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. 58% gehen von verstärkten Fusionsaktivitäten aus. „Finanzstarke Unternehmen nutzen ihre Chance und erweitern durch strategische Zukäufe ihr Portfolio und Know-how“, erklärt Rolf Fricker, Partner und Pharmaexperte bei Booz & Company. „Es wird aber keine Übernahmeschlachten geben, wie dies vor der Krise in anderen Branchen der Fall war. Europas Pharmamanager sind auf die kommenden Veränderungen vorbereitet.“
Verschiebung der Zielgruppen erfordert neuen Marketing-Mix
Besonders die Marketingbudgets stehen unter diesen Rahmenbedingungen auf dem Prüfstand. Das alarmierende Ergebnis: Mehr als 80% der Unternehmen, die bereits bei Marketing und Vertrieb gespart haben, planen dies weiter zu forcieren. 15% nehmen sogar drastische Einschnitte vor, während lediglich 5% ihr Budget erweitern. Auf der Streichliste stehen vor allem klassische Instrumente wie Anzeigenwerbung, Außendienst und Kongresse. Durch die neu priorisierten Zielgruppen verringert sich beispielsweise der Bedarf an Außendienstkapazitäten zur Produktvorstellung beim Arzt. Auf der Payroll stehen stattdessen in Zukunft Spezialisten für Verhandlungen mit Kostenträgern, die innovative Vertragsmodelle entwickeln. Ein Indikator für die Entwicklung des Pharmamarktes in den kommenden Jahren sind die Investitionsplanungen der Entscheider: 70% der Befragten stocken die Budgets für gesundheitsökonomisches Marketing und die Zusammenarbeit mit beispielsweise den Krankenkassen auf. Fast die Hälfte planen mehr spezialisierte Key Account Manager einzusetzen und über 50% wollen ihre Patienten-Compliance-Programme ausbauen. „Pharmamanager müssen ihre Marketingmodelle konsequent auf Kooperationen mit Kostenträgern ausrichten. Die Zeiten von ausschließlich arztorientiertem Vertrieb sind vorbei. Multidisziplinäre Teams aus Marketing, Vertrieb, Medizin, Gesundheitsökonomie und klinischer Entwicklung betreuen in Zukunft gemeinsam eine breitere Basis an Zielgruppen. Krankenversicherungen und Patienten rücken in den Mittelpunkt. Pharmahersteller müssen mit Modellen wie Risikobeteiligungen und Geld-zurück-Garantien zukünftig Wege gehen, die man bisher aus anderen Branchen kannte“, meint Fricker.
Bleibt Marketing Kerngeschäft der Hersteller?
Nachdem Marketingaktivitäten bei Generikaprodukten durch die Direktverträge mit den Krankenkassen quasi obsolet geworden sind, stehen nun verstärkt die Budgets der forschenden Unternehmen unter Druck. Trotz steigender F&E-Investitionen schaffen es immer weniger Medikamente auf die Zulassungsliste. Die Experten von Booz & Company gehen davon aus, dass auch ein Viertel der innovativen Arzneimittel in den kommenden Jahren durch Direktverträge gebunden sind. Die Generikahersteller können sich keine großen Marketing- und Vertriebsaktivitäten mehr leisten. Daher setzen sie stärker auf Volumengeschäft mit minimaler Marge. Auch die innovative Pharmaindustrie wird neue Wege gehen müssen. Traditionell deckte sie alle Teile der Wertschöpfungskette inhouse ab. Dieses Modell steht vor einem Strukturwandel, ähnlich wie ihn zuletzt der Automobilsektor durchlief. Auch in der Pharmaindustrie wird in Zukunft sehr viel stärker Wert auf Flexibilität gelegt und Teile der Wertschöpfungskette an Spezialisten delegiert - auch in Marketing und Vertrieb. Dabei kommt es nicht nur zu einer neuen Dienstleistungsstruktur, sondern auch zu erheblichen Margenverschiebungen zwischen den Marktteilnehmern. „Generell gilt: Das Pharmamarketing muss sich neu erfinden - wenn ich keine Produktinnovationen mehr habe, muss ich Marktanteile durch Marketing- und Prozessinnovationen sichern “, sagt Rolf Fricker.