Vom Krankheitsbild zur Mutation
Wissenschaftler entschlüsseln genetisch bedingte neurodegenerative Erkrankung
AG Hübner/UKJ
"Die erste Verdachtsdiagnose lautete Lepra", beschreibt Prof. Dr. Christian Hübner das Krankheitsbild bei einer Patientin, deren Finger und Zehen verstümmelt waren. "Aber Lepraerreger konnten nicht nachgewiesen werden und als wir erfuhren, dass mehrere Geschwister der Frau auch betroffen waren, wurden wir hellhörig."
Der Verdacht, dass die Erkrankung eine genetische Ursache hatte, bestätigte sich. Untersuchungen des gesamten Genoms der Familie grenzten den verdächtigen Bereich auf dem Chromosom 5 ein und ergaben schließlich, dass bei allen von der Erkrankung betroffenen Familienmitgliedern sowohl die väterliche als auch die mütterliche Kopie des FAM134B-Gens mutiert waren. Bei den nicht erkrankten blutsverwandten Eltern der Patientin und gesunden Geschwistern lag die Mutation nur auf einem der beiden Kopien vor - für die Genetiker ein klassisches Beispiel eines sogenannten autosomal-rezessiven Erbganges.
Vererbte Mutation als Ursache
"Unser Interesse war geweckt", so der Neurogenetiker Hübner, "denn die Funktion des Gens war noch nicht erforscht worden. Wir wollten wissen, ob eindeutig diese Mutation zu dem beschriebenen Krankheitsbild führt und vor allem, wie." Zunächst fahndeten die Mediziner unter 75 weiteren Patienten, die unter Empfindungsstörungen, eingeschränkter Reizleitung, Knochenentzündungen an den Fingern und Zehen und als Folge Verstümmelungen litten, nach Veränderungen im FAM134B-Gen. Bei dreien wurden sie fündig - die Mutation war also die Ursache.
Im nächsten Schritt klärten die Forscher die Funktion des Gens. Es enthält den Bauplan für ein Protein, das besonders in solchen Nervenzellen vorkommt, die Reize von den äußeren Extremitäten zum Gehirn leiten und dazu besonders lange Zellfortsätze haben. "Innerhalb dieser Zellen fanden wir das Protein vor allem im Golgi-Apparat, einer Art Zellreaktor, in dem von der Zelle gebildete Eiweiß- und Fettmoleküle modifiziert und sortiert werden", so Dr. Ingo Kurth, Humangenetiker am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. "Damit tauchte gleich die nächste Frage auf: Welche Funktion hat das Protein dort?"
Neues Golgi-Protein entdeckt
Solche Fragen beantworten Wissenschaftler oft indirekt. Die Genetiker untersuchten also, was schief geht, wenn das vom Gen verschlüsselte Eiweiß fehlt. Dazu schleusten sie ein Virus in leicht handhabbare Tumorzellen, das genau das fragliche Gen ausschaltete. Als Folge davon hatte der Golgi-Apparat in diesen Zellen nur etwa zwei Drittel seiner normalen Größe, Zellwachstum und -teilung waren stark eingeschränkt. "Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass das von uns gefundene Eiweiß eine wesentliche Rolle für die Struktur und damit die Funktion des Golgi-Apparates spielt. Kommt es zu einer Störung dieses Zellorgans, kann eine Vielzahl von Botenstoffen in den Nervenzellen nicht mehr regelgerecht hergestellt werden - mit schlimmen Folgen für die Funktion vor allem von den Nervenzellen, die aufgrund ihrer langen Zellfortsätze besonders empfindlich sind", fasst Professor Hübner die Ergebnisse zusammen. Diese Vermutung wurde bestätigt durch die Beobachtung, dass wie bei den Patienten auch im Zellkulturmodell der Proteinverlust zum Absterben dieser Nervenzellen führt.
Die Arbeit der Neurogenetiker ist Grundlagenforschung, sie stellt ein Puzzleteil im völlig unvollständigen Bild der genetisch bedingten neurodegenerativen Erkrankungen dar. Einen direkten Weg für die Behandlung der Betroffenen können die Wissenschaftler noch nicht aufzeigen, eine Gentherapie ist reine Zukunftsmusik. Doch der Patientin, deren falsche Lepradiagnose vor über fünf Jahren der Ausgangspunkt der Untersuchungen war, halfen die Medizinforscher trotzdem: Sie konnten ihr nach der Untersuchung ihrer sieben Kinder versichern, dass die Kinder nicht an der Nervendegeneration erkranken werden.
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