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Wilhelm Griesinger



 

Wilhelm Griesinger (* 29. Juli 1817 in Stuttgart, † 26. Oktober 1868 in Berlin) war ein deutscher Psychiater und Internist und gilt als einer der Begründer der modernen, (natur-)wissenschaftlichen Psychiatrie.

Leben

Sohn von Karoline Luise Griesinger, geb. Dürr und Gottfried Ferdinand Griesinger, Stiftungsverwalter des Hospitals in Stuttgart. 1834, mit 16 Jahren, legte Griesinger sein Abitur ab und schrieb sich im selben Jahr als Medizinstudent an der Universität Tübingen ein. Dort geriet er in Konflikt mit der Professorenschaft und Universitätsverwaltung durch sein politisches Engagement in einer der damals noch progressiven (später verbotenen) Burschenschaften, da er öffentlich vor Universitätsmitgliedern für ein freies, einiges und republikanisches Deutschland eintrat, aber auch durch seine kritischen Äußerungen gegenüber der in Tübingen gelehrten romantischen Medizin, die Griesinger als „spekulativ“ zurückwies. Zusammen mit Julius Robert Mayer wurde er daraufhin für ein Jahr von der Universität verwiesen. Er setzte seine Studien bei Johann Lukas Schönlein in Zürich fort und promovierte schließlich 1838 mit einer Dissertation über Diphtheritis in Tübingen.

Von dort wandte er sich nach Paris, um sein klinisches Wissen zu erweitern. Er lernte François Magendie kennen, den Begründer der experimentellen Physiologie und Verfasser des ersten modernen Lehrbuchs der Physiologie, dessen Forschungsansatz ihn stark beeinflusste. 1839 übersiedelte er als praktizierender Arzt nach Friedrichshafen am Bodensee. Schon im darauf folgenden Jahr erhielt er das Angebot, unter dem Direktor Ernst Albert von Zeller als Sekundärarzt an der Irrenheilanstalt Winnenthal (Württemberg) zu arbeiten. In den nächsten zwei Jahren, die er dort tätig war, sammelte Griesinger einen großen Reichtum an praktischen Erfahrungen, der die Grundlage seines 1845 veröffentlichten Hauptwerkes „Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten“ (Stuttgart: Krabbe) wurde. Griesinger unternahm darin den Versuch, die Psychiatrie aus der medizinischen Physiologie und Pathologie zu begründen. Bereits auf der ersten Seite findet sich Griesingers berühmter Ausspruch, wonach es zum Verständnis jedes Krankheitssymptoms nötig sei, das betreffende Phänomen zu lokalisieren und alle psychischen Krankheiten als Erkrankungen des Gehirns zu erkennen.

Vor der Veröffentlichung seines neuen, materialistischen Ansatzes in der Psychiatrie, der bald weite Verbreitung in Deutschland erfahren sollte, hatte Griesinger 1842 weitere Studienreisen nach Paris und Wien unternommen, sich für kurze Zeit als Arzt in Stuttgart niedergelassen und bald darauf, 1843, einen Ruf auf die Stelle eines Assistenzarztes an die Medizinische Klinik in Tübingen angenommen, wo er im selben Jahr habilitierte und seine Lehrtätigkeit als Privatdozent für Pathologie, Materia medica und Medizingeschichte aufnahm. 1847 wurde er dann zum außerordentlichen Professor berufen.

1849 folgte ein Ruf als Direktor der Universitätsklinik Kiel, wo er neuroanatomische Forschungen betrieb. 1850 heiratete Griesinger Josephine von Rom, mit der zusammen er Deutschland aus politischen Gründen noch im selben Jahr verließ, um eine Stelle als Leibarzt des Ägyptischen Vizekönigs Abbas Pascha anzutreten, womit sich die Aufgaben des Direktors der medizinischen Schule in Kairo sowie des Präsidenten für das gesamte Medizinalwesen Ägyptens verbanden. In dieser Zeit sammelte Griesinger einen Großteil seines Materials für seine späteren Abhandlungen über „Klinische und anatomische Beobachtungen über die Krankheiten von Aegypten.“ (In: Archiv für physiologische Heilkunde, Stuttgart, 1854, 13, S. 528–575.) und über die „Infectionskrankheiten“ in Virchows Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie. (Erlangen; Enke, 1857.)

1852 kehrten Griesinger und seine Frau zurück nach Stuttgart. 1854 wurde Griesinger Ordinarius für klinische Medizin an der Universität Tübingen und Nachfolger von Carl Reinhold August Wunderlich als Direktor der Medizinischen Klinik. 1859 übernahm Griesinger die Leitung der 1847 gegründeten Heil- und Erziehungsanstalt Mariaberg bei Gammertingen (Württemberg), einer der ersten Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung in Deutschland.

1860 verließ Griesinger Deutschland erneut und übernahm die Leitung der Klinik für Innere Medizin in Zürich. Gleichzeitig entwickelte er in dieser Zeit als Mitglied der Medizinalkommission einen Plan für den Bau einer modernen Irrenanstalt im Kanton Zürich, der 1865 mit der Eröffnung des psychiatrischen Universitätsklinikums „Burghölzli“ umgesetzt wurde.

Bereits ein Jahr zuvor hatte Griesinger den Ruf auf eine Professur an der Charité in Berlin angenommen, wo er zugleich Direktor der psychiatrischen Klinik wurde. Er machte zahlreiche Reformvorschläge und sorgte dafür, dass der Irrenanstalt der Charité eine Nervenstation angegliedert wurde. 1867 gründete er die „Berliner Medicinisch-Psychologische Gesellschaft“, deren Vorsitz er übernahm und gab die erste Ausgabe des „Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten“ heraus.

  Im Sommer 1868 erkrankte Griesinger an einer Perityphlitis, einem Abszess des Blinddarms. Nach Operation des Abszesses infizierte sich die Wunde mit Diphtherie, jener Infektionskrankheit, über die Griesinger in seiner Dissertation geschrieben hatte. Er verstarb am 26. Oktober 1868 in Berlin. Griesingers Grab befindet sich auf dem alten St.-Matthäus-Kirchhof in der Großgörschenstraße in Berlin-Schöneberg.

1968, zu Griesingers 100. Todestag, wurde die „Anstalt für Epileptische Wuhlegarten bei Biesdorf“ in Wilhelm-Griesinger-Krankenhaus umbenannt.

Lebensdaten im Überblick

  • 1817 – geboren am 29. Juli in Stuttgart als Sohn von Karoline Luise Griesinger, geb. Dürr und Gottfried Ferdinand Griesinger
  • 1834 – Abitur; im selben Jahr Beginn des Studiums der Medizin in Tübingen
  • 1837 – Verweis von der Universität Tübingen wegen politischer Aktivitäten und Zwischenstudium in Zürich bei Johann Lukas Schönlein
  • 1838 – Promotion in Tübingen; Studienreise nach Paris und Bekanntschaft mit François Magendie
  • 1839 – praktizierender Arzt in Friedrichshafen am Bodensee
  • 1840 – Sekundärarzt an der Irrenanstalt Winnenthal (Württemberg)
  • 1842 – praktizierender Arzt in Stuttgart; Mitarbeit am „Archiv für physiologische Heilkunde“; weitere Studienreisen nach Paris und Wien
  • 1843 – Assistenzarzt an der Medizinischen Klinik in Tübingen; Habilitation und Privatdozentur für Pathologie, Materia Medica und Medizingeschichte
  • 1845 – Veröffentlichung des Buches „Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten“ (Stuttgart; Krabbe)
  • 1847 – Berufung zum außerordentlichen Professor; Redakteur des „Archivs für physiologische Heilkunde“
  • 1849 – Ordentlicher Professor und Direktor der Universitätsklinik Kiel; neuro-anatomische Hirnforschung am dortigen pathologischen Institut
  • 1850 – Heirat mit Josephine von Rom; Leibarzt des Ägyptischen Vizekönigs Abbas Pascha, Direktor der medizinischen Schule in Kairo und Präsident des gesamten Medizinalwesens in Ägypten
  • 1852 – Rückkehr von Ägypten nach Stuttgart
  • 1854 – Ordinarius für klinische Medizin in Tübingen und Nachfolger von Carl Reinhold August Wunderlich (1815–1877) an der Medizinischen Klinik
  • 1857 – Veröffentlichung des Buches „Infectionskrankheiten: Malariakrankheiten, Gelbes Fieber, Typhus, Pest, Cholera“ (Erlangen; Enke)
  • 1859 – Leitung der Heil- und Erziehungsanstalt Mariaberg bei Gammertingen (Württemberg)
  • 1860 – Direktor der Klinik für Innere Medizin in Zürich; Professur für Innere Medizin; Mitglied der Medizinalkommission; Konzept für den Bau einer modernen Irrenanstalt im Kanton Zürich (1865 als Klinikum „Burghölzli“ eröffnet)
  • 1861 - Die zweite, überarbeitete Auflage seines Lehrbuches Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten erweist sich als Griesingers Hauptwerk und macht ihn zu einem der führenden Psychopathologen der Zeit. - Abb. des Titelblattes in: «Atlas zur Entwicklung der Psychiatrie» [1]
  • 1864 – Direktor der psychiatrischen Klinik der Charité in Berlin-Mitte
  • 1867 – Gründung und Vorsitz der „Berliner Medicinisch-psychologische Gesellschaft“ (seit 1879 „Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten“; seit 1933 „Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie“); Herausgeber des „Archivs für Psychiatrie und Nervenkrankheiten“
  • 1868 – gestorben am 26. Oktober in Berlin

Werke

  • Herr Ringseis und die naturhistorische Schule. In: Archiv für physiologische Heilkunde. 1. Jg (1842).
  • Theorien und Thatsachen. In: Archiv für physiologische Heilkunde, 1. Jg. (1842).
  • Über den Schmerz und über die Hyperämie. In: Archiv für physiologische Heilkunde, 1. Jg. (1842).
  • Über psychische Reflexaktionen. Mit einem Blick auf das Wesen der psychischen Krankheiten. In: Archiv für physiologische Heilkunde, 2. Jg. (1843), S. 76ff.
  • Neue Beiträge zur Physiologie und Pathologie des Gehirns. In: Archiv für physiologische Heilkunde. Stuttgart 1844.
  • Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten. Stuttgart (Krabbe) 1845 (2. Aufl. Braunschweig 1861).
  • Ueber Schwefeläther-Inhalationen. In: Archiv für physiologische Heilkunde, 6. Jg. (1847), 348–350.
  • Bemerkungen über das Irrenwesen in Württemberg. In: Württemb. Medic. Correspondenzblatt. Supplementband z. d. Jahrg. 1848 u. 49. No. 20.
  • Klinische und anatomische Beobachtungen über die Krankheiten von Aegypten. In: Archiv für physiologische Heilkunde, 13. Jg. (1854), 528–575.
  • Infectionskrankheiten. (Virchow's Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie.) Erlangen 1857.
  • Zur Kenntnis der heutigen Psychiatrie in Deutschland. Eine Streitschrift gegen die Broschüre des Samitätsrats Dr. Laehr in Zehlendorf: „Fortschritt? – Rückschritt!“ Leipzig (Wigand) 1868.
  • Über Irrenanstalten und deren Weiter-Entwicklung in Deutschland. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd.1 (1868), H.1. II.
  • Gesammelte Abhandlungen. 2 Bde. Berlin (Hirschwald) 1872.
 
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