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Triage
Weiteres empfehlenswertes Fachwissen
Unausweichlichkeit und Problematik der TriageDies kann ein andauerndes (schleichendes) Problem der Medizin überhaupt sein (Beispiel: Ersatz-Nieren sind andauernd knapp), oder eine sich bei Großunfällen/Katastrophen/Kriegen plötzlich einstellende Notwendigkeit (Beispiel: bei einem Flughafenunfall ein gleichzeitiger Anfall zahlreicher Sterbender, Schwer- und Leichtverletzter). Herkömmliche RegelnAuch ist das Problem sehr alt, weil es in allen Gesellschaften auftritt, wenn zum Beispiel entschieden werden muss, welche Neugeborenen überleben könnten oder sollten. In einigen Bereichen gibt es herkömmliches Brauchtum, das dieses Problem vereinfacht, zum Beispiel bei Schiffsuntergängen (Seenot) die Regeln „Frauen und Kinder zuerst!“ und „Der Kapitän geht immer als Letzter von Bord“. Es können auch nie ausgesprochene Faustregeln sein, bei einem Straßengefecht etwa: „Unsere Soldaten vor den Zivilisten, diese vor feindlichen Soldaten!“, oder bei sehr zahlreichen Betroffenen und sehr knappen Mitteln: „Wir versorgen sie in der Reihenfolge, in der wir sie bemerken“ oder „Wir retten, wen wir kennen“. Insgesamt kann eine Triage eine Aufgabe zum Verzweifeln werden, weil Entscheidungen zu treffen sind, die mit großer Wahrscheinlichkeit den Tod einiger Betroffener bedeuten (um andere zu retten). Schuldgefühle oder PTS (post-traumatischer Stress) bei den Handelnden sind im Extremfall möglich. Volkswirtschaftliche und soziologische BeiträgeEin volkswirtschaftlicher Ansatz zielt darauf ab, das „Humankapital“ der Geretteten abzuschätzen, also bei den zu Rettenden darauf zu sehen, dass ihr zu erwartendes Lebenseinkommen vom Zeitpunkt der Rettung an maximiert wird. Die Katastrophensoziologie schlägt vor, dass diejenigen, die die Triage steuern, jedenfalls nur als Letzte gerettet werden dürften; anders sei ihr Handeln für die Beteiligten sozial nicht legitimierbar. SanitätsdienstDie heute allgemein verwendeten Regeln für die Triage bei Massenanfall von Betroffenen sind darauf ausgerichtet, dass möglichst viele Personen das Ereignis mit möglichst wenig Schaden überstehen. Man versucht also, das bestmögliche Ergebnis für das Kollektiv der Geschädigten zu erzielen, wobei das Interesse des Einzelnen unter Umständen zurückstehen muss. Intensive Maßnahmen bei wenigen schwer Geschädigten binden möglicherweise Kapazitäten, die zur Versorgung vieler Anderer verwendet werden könnten. Man wird daher jene, deren Situation von vornherein aussichtslos scheint, eher schmerzstillend als intensivmedizinisch behandeln, bis andere, deren Prognose vor Ort besser erscheint, versorgt sind. Dieses zeitweilige Aufgeben der Individualmedizin, die im Gesundheitssystem einer modernen Gesellschaft Standard ist und die Einteilung in Behandlungsprioritäten oder auch Sichtungskategorien ist eine ethisch schwierige Aufgabe und Herausforderung. Eine Hilfe bieten Sichtungsschemata (siehe unten), die aufgrund vernünftiger medizinischer Annahmen eine gerechte Vorgehensweise nach notfallmedizinischer Notwendigkeit unterstützen. GeschichteZum Anfang des 16. Jahrhunderts führte Kaiser Maximilian I. (1459–1519) seine Heeres-Sanitäts-Verfassung ein, in der erstmals geordnete Sanitätseinheiten dokumentiert wurden, deren Aufgabe unter anderem darin bestand, dass die überlebensfähigen Verletzten gerettet und versorgt wurden. Im Königlich-Preußischen Feld-Lazarett-Reglement von 1787 werden bereits detaillierte Angaben zur Einstufung der verschiedenen Schweregrade gemacht. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts bedingten die raumgreifenden Feldzüge der französischen Revolutionsarmeen ein weiteres Umdenken im militärischen Sanitätswesen. Resultat waren neue Ansätze der medizinischen Versorgung vor Ort und des Transports in weiter entfernt liegende Behandlungseinrichtungen. Der französische Arzt Dominique Jean Larrey erzielte mit seinen schnellen Klassifikationsmethoden für Amputationen Erfolge (75–80 % der von ihm Operierten überlebte, eine wesentlich höhere Rate als die anderer Ärzte), konnte diese jedoch noch nicht in ein förmliches, auch für andere Ärzte geltendes Verfahren umsetzen. Erst der russische Chirurg Nikolai Iwanowitsch Pirogow (1810–1881) entwickelte aus seinen Erfahrungen im Kaukasischen Krieg und im Krimkrieg abgestufte chirurgische Behandlungsverfahren und das Prinzip der „Krankenzerstreuung“ (verteilte Behandlung von Verletzten/Erkrankten) zur Ordnung auf den überfüllten Verbandplätzen mit Einteilungen der Verwundeten in fünf Stufen. Die preußische Armee übernahm 1866 das russische Prinzip, später fand es sich auch bei den anderen Sanitätsdiensten verbündeter Armeen Europas. Im weiteren Verlauf wurden zahlreiche Fortschritte der Medizin und der Operationsmethoden auch auf die Organisation des militärischen Sanitätsdienstes übertragen, das Pirogowsche Prinzip der „Krankenzerstreuung“ blieb aber auch noch im Ersten Weltkrieg erhalten. Der französische Sanitätsdienst führte das Prinzip „Triage – Transport – Traitement“ (Triage – Transport – Behandlung) ein und prägte damit den Begriff Triage. Die französischen Ärzte Spire und Lombardy definierten Triage 1934 als
Das Sanitätswesen der deutschen Reichswehr und später der Wehrmacht hielt sich prinzipiell an die Erfahrungen der „Krankenzerstreuung“ aus dem Ersten Weltkrieg, konnte jedoch aufgrund der schnellen Wiederaufrüstung seine Ärzte kaum ausreichend in der Anwendung ausbilden. Erst 1942 wurde in den Richtlinien für die Versorgung Verwundeter in den vorderen Sanitätseinrichtungen eine strukturierte Vorgehensweise für die Triage im deutschen Militärsanitätsdienst endgültig festgeschrieben, die auch die militärische Lage und die Transportmöglichkeiten mit einbezog. Mit der Aufstellung der NATO wurde eine einheitliche Systematik geschaffen, die sich in den Mitgliedsstaaten und darüber hinaus durchsetzte. Der moderne Krieg mit der Bedrohung durch schlagkräftige konventionelle aber auch atomare, biologische und chemische Waffen beeinflusste die weitere Entwicklung zur Systematisierung von Verletzungen bei Soldaten. Erst nach und nach wurden diese Verfahrensgrundsätze auch zur Hilfeleistung bei zivilen Katastrophen eingesetzt, beginnend mit der Planung zur Bewältigung von Strahlenschäden, die bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie eintreten könnten. Davon ausgehend hat sich das heutige Sichtungssystem auch beim zivilen Massenanfall von Verletzten entwickelt. Für den modernen Rettungsdienst wegweisend wurden vom Hoag Hospital (USA) und dem Newport Beach Fire Department (Newport Beach, Kalifornien/USA) in den frühen 1980er Jahren das Schema STaRT (Simple Triage and Rapid Treatment = Einfache Triage und schnelle Versorgung) geschaffen. Vorgehensweise / AblaufBergungssichtungDie Bergungssichtung wird noch im unmittelbaren Schadensgebiet eingesetzt. Hier wird schnell entschieden, welcher Betroffener zuerst gerettet wird, bei wem eventuell bereits medizinische Maßnahmen ergriffen werden müssen und wer warten muss. Diese Entscheidung dient zur Einweisung nachfolgender Helfer und als Anhaltspunkt für die technische Rettung, die dann in der vorgegebenen Reihenfolge die Befreiung durchführt. Es geht dabei nur darum, eine allererste und sehr schnelle Übersicht über die Patienten zu gewinnen. Als Richtzeit gilt eine Untersuchungszeit von 20–60 Sekunden pro Patient. Die Bergungssichtung wird von den ersteintreffenden Helfern („Sichter“) durchgeführt. Begonnen wird nach kurzem Überblick (Sehen, Hören, Denken) von dem Punkt aus, an dem man steht. Erstmaßnahmen werden an Umstehende bzw. Leichtverletzte delegiert, der Sichter geht nach der Kategorisierung/Markierung sofort über zum nächsten Patienten. Eine aufwändige Dokumentation oder ähnliches soll hierbei unterbleiben, notwendig ist lediglich eine Strichliste oder eine Lageskizze, das Sichtungsergebnis soll eindeutig am Patienten markiert werden (Farbcodierung oder Kennzeichnung mit Abkürzungen/Ziffern). Sichtungs-Schemata (siehe unten) tragen zur einheitlichen und gerechten Vorgehensweise bei. Dekon-SichtungDie Dekontamination (Entgiftung) von Betroffenen erfordert eine Spezialform der Bergungssichtung. Zusätzlich zur Einteilung in eine der Sichtungskategorien wird explizit der Zustand „liegend“ oder „gehend“ festgelegt. Davon hängt die Zuteilung zum Dekontaminationsbereich ab. Für die Dekontamination selbst sind dabei folgende Einteilungen wesentlich (Quelle: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Rahmenkonzept zur Dekontamination verletzter Personen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, September 2006 [1]):
Eine frühzeitige Identifizierung des Gefahrstoffes ist erforderlich, damit eine effektive Dekontamination und eine geeignete medizinische Behandlung durchgeführt werden können. Auch Patienten, deren Behandlung dringlich ist, dürfen erst nach einer Ganzkörperdekontamination zur weiteren Behandlung auf dem sich bildenden Behandlungsplatz oder zum Transport ins Krankenhaus freigegeben werden, um diese Bereiche vor Kontaminationsverschleppung zu schützen. BehandlungssichtungDie oben beschriebene Bergungssichtung dient lediglich einer ersten Übersicht im unmittelbaren Schadensgebiet. Mit zunehmender Zeit kann eine Behandlungsstruktur geschaffen werden, die eine differenziertere Untersuchung ermöglicht. Aber auch hier ist die gezielte Zuordnung zu bestimmten Behandlungsmöglichkeiten wichtig, um die Versorgung nach dem Bedarf zu ermöglichen und Helfer und Gerät zuteilen zu können. Vorzugsweise findet diese Behandlungssichtung dann auf einem eingerichteten Behandlungsplatz statt. Ein erfahrener Helfer (meist ein gezielt für die Sichtung ausgebildeter Notarzt) legt nach notfallmedizinischen Kriterien und im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten die Behandlungsprioritäten fest. Er wird dabei möglichst von Helfern unterstützt, die ihm bei der Vorbereitung (Entkleiden des Patienten) und bei der Dokumentation (mittels Verletztenanhängekarte) zur Hand gehen. Die Sichtung wird entsprechend den Gegebenheiten (veränderte Transport- und Behandlungskapazitäten, Ablauf von Zeit) wiederholt und den aktuellen Möglichkeiten angepasst. Die Einteilung des Sichtungsteams und die Festlegung der Sichtungskriterien ist Aufgabe des Leitenden Notarztes. TransportsichtungZiel der Transportsichtung ist es, die Transportstabilität des Patienten zu beurteilen und ihn mit dem geeigneten Rettungsmittel in ein geeignetes Krankenhaus transportieren zu können. Sichtungsschemata
STaRT-Schema: Simple Triage and Rapid TreatmentGeprüft wird die Gehfähigkeit, Respiration (Atmung), Perfusion (Durchblutung) und Mentaler Status nach dem STaRT-System (Simple Triage and Rapid Treatment) ohne besondere Hilfsmittel:
Die Rettung aus dem Gefahrengebiet geschieht dann in der Reihenfolge
Diese strukturierte Vorgehensweise benötigt maximal 60 Sekunden pro Patient und ermöglicht dennoch eine umfassende und relativ genaue Evaluation. Das STaRT-Schema ist geeignet zur Anwendung durch geübte Rettungskräfte und vor allem medizinisches Personal aller Qualifikationsstufen. Der Nachteil liegt darin, dass es für Erwachsene konzipiert ist und Besonderheiten bei Kindern außer Acht lässt. JumpSTaRT: für KinderEin Kind mit Atemstillstand hat im Gegensatz zum Erwachsenen mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Problem mit verlegten Atemwegen (und keine verletzungsbedingten Störungen). Eine Atemfrequenz von über 30/min. ist bei Kindern noch normal. Die Durchblutung ist bei Kindern sehr schwer anhand der Fingernagelprobe abzuschätzen, weil Kinder sehr leicht auskühlen und die Kapillardurchblutung dann nicht mehr aussagekräftig ist. Außerdem ist bei Kindern grundsätzlich von einer verzögerten oder inadäquaten Reaktion auf Ansprache auszugehen, gerade Kleinkinder können noch gar nicht richtig sprechen. Deshalb wurde das STaRT-Schema für ein- bis achtjährige Kinder im Miami Children’s Hospital (USA) in Zusammenarbeit mit dem Miami-Dade Fire Rescue Department (Florida/USA) folgendermaßen abgewandelt:
mSTaRT: modifiziertes STaRTDas modifizierte STaRT-Schema verbindet die Erkenntnisse aus dem JumpSTaRT und dem originalen STaRT-Schema zu einem umfassenden Prozess, der sowohl für Erwachsene als auch Kinder geeignet ist. In Deutschland wurde es 2004 von der Berufsfeuerwehr München in Zusammenarbeit mit der Ludwig-Maximilians-Universität München auf deutsche Verhältnisse adaptiert und auf einem Kongress vorgestellt. Eine entsprechende Dienstanweisung „Einsatzstandard Massenanfall von Verletzten – Sichtung“ gilt seit dem Jahr 2005 für den Rettungsdienst aller Organisationen im gesamten Rettungsdienstbereich München (Landeshauptstadt und Landkreis München). Die Berufsfeuerwehr München bildet ihre Rettungssanitäter und Rettungsassistenten entsprechend aus und sorgt für die Verbreitung in München und Umgebung. Dieses Konzept wurde im Rahmen der Vorbereitungen zur Fußball-WM 2006 auch im Bayerischen Roten Kreuz und den anderen bayerischen Hilfsorganisationen verbreitet und könnte daher zukünftig flächendeckend in Bayern zur Anwendung kommen. BASIC-Schema: Blutung, Atemwege, Schock, Immobilisation nach der KlassifikationDas New England Council for Emergency Medical Service (NECEMS) führte in dem 1980er Jahren für die US-Bundesstaaten Vermont, Maine, New Hampshire und Rhode Island das BASIC-Schema (Bleeding, Airway, Shock, Immoblization after Classification) ein. Es folgt der im Akronym BASIC angegebenen Reihenfolge zur Kontrolle von Vitalfunktionen und unmittelbaren Erstmaßnahmen:
Der Vorteil dieses Schemas ist, dass es auch für Ungeübte leicht zu merken ist – die Reihenfolge der Prüfung ist im Akronym bereits enthalten. Es lässt sich sehr schnell anwenden, der Zeitbedarf pro Patient liegt zwischen 10 und 30 Sekunden zur Erkennung des jeweiligen Zustands. Der Nachteil liegt darin, dass es keine differenzierte Herangehensweise zur Klassifikation bietet, keine komplexeren Vorgaben macht und damit viel dem Gespür des Helfers überlässt. Man geht davon aus, dass die leichteren Verletzungen nicht allzu falsch eingeteilt werden können. Es bietet sich also vor allem für ungeübte Ersthelfer oder nicht-medizinische Rettungskräfte an, die in der allerersten Phase der Hilfe anwesend sind und sich mit einfachen Mitteln behelfen müssen. Diese so geschaffene Struktur muss dann durch geübte Rettungskräfte weiter verfeinert werden, die sich dann geeigneterer Vorgehensweisen bedienen (zum Beispiel STaRT-Schema). Reverse TriageDas Konzept der reversen Triage (umgekehrte Sichtung) folgt dem Prinzip, dass die un- oder leichtverletzten Betroffenen zuerst abtransportiert bzw. durch die Dekontaminations-/Behandlungsplätze durchgeschleust werden. Dahinter steht die Logik, dass
Siehe auch
Literatur
Kategorien: Notfallmedizin | Medizinethik |
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