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Memminger Prozess



Der Memminger Prozess fand von September 1988 bis Mai 1989 vor dem Landgericht Memmingen gegen den Arzt Dr. Horst Theißen wegen Schwangerschaftsabbruchs statt. Das Verfahren fiel in die Zeit einer aufgeheizten politischen und gesellschaftlichen Debatte um die Rechtmäßigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen. Darüber hinaus gestaltete sich der Prozess durch die Verfahrensführung und die Art der Zeugenvernehmung so, dass vielfach Zweifel an der Neutralität der Strafkammer des Landgerichts geäußert wurden. Deshalb wurde der Prozess auch als „Moderner Hexenprozess“ bezeichnet. Dr. Theißen wurde am 5. Mai 1989 erstinstanzlich wegen Schwangerschaftsabbruchs und Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt, zudem wurde ein dreijähriges Berufsverbot verhängt. Nach erfolgreicher Revision wurde der Arzt in der erneuten Hauptverhandlung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt; auf ein Berufsverbot wurde nicht erkannt.

Inhaltsverzeichnis

Das politische Umfeld

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland zunächst das strikte Abtreibungsverbot aus der Zeit des Nationalsozialismus beibehalten. Während es in der DDR seit 1950 ein reines Fristenmodell gab, war ein Schwangerschaftsabbruch in Westdeutschland weiterhin strafbar. Im Zuge der Frauenbewegung setzte sich dann mehr und mehr eine liberalere Sichtweise durch, die 1972 zur Einführung eines reinen Fristenmodells auch in der Bundesrepublik führte. Hiernach sollte ein Abbruch in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft prinzipiell straffrei sein. Gegen dieses Gesetz legten CDU und CSU Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein, welches das Gesetz für nichtig und die Regelung in seinem Urteil für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärte. Als Alternative wurde eine Indikationslösung angeregt, so dass der Bundestag 1976 eine Neufassung der § 218 und § 219 StGB verabschiedete. Hiernach war ein Schwangerschaftsabbruch nur noch beim Vorliegen einer medizinischen, kriminologischen, eugenischen oder einer Notlageindikation straffrei.

Das neue Bundesgesetz ließ den einzelnen Ländern relativ breiten Spielraum, wie die Beratung zur Indikationsfeststellung und die Abtreibung selbst durchzuführen waren, um straffrei zu bleiben. Dies führte beispielsweise dazu, dass in Bayern und Baden-Württemberg Abbrüche seit 1980 nur noch stationär mit einem mehrtägigen Krankenhausaufenthalt durchgeführt werden durften; zudem waren nur wenige Krankenhäuser bereit, Abbrüche überhaupt vorzunehmen. Des Weiteren legten die Gerichte bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Indikation in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedliche Maßstäbe ein. Insbesondere bayrische Gerichte urteilten relativ streng, was Zumutbarkeiten bei einer Notlageindikation anging, durch die der Abbruch in etwa 80% der Fälle begründet wurde. Dies hatte zur Folge, dass die meisten Frauen aus Bayern und Baden-Württemberg Abtreibungen ambulant in Hessen vornehmen ließen oder gleich in die Niederlande fuhren.

Die Vorgeschichte

Dr. Horst Theißen eröffnete 1974 seine Praxis als erster (und lange Zeit einziger) niedergelassener Frauenarzt in Memmingen. Nach mehrjähriger Tätigkeit erfolgt im Jahr 1986 eine anonyme Anzeige wegen Steuerhinterziehung. Wie sich später herausstellte, stammte diese Anzeige von einer ehemaligen Arzthelferin, mit der es Differenzen gegeben hatte. Im Zuge der Ermittlungen wurden die Geschäftsunterlagen der Arztpraxis beschlagnahmt, darunter auch die Patientenkartei. Die Steuerfahndung reicht diese Kartei im Zuge der Ermittlungen unaufgefordert an die Memminger Staatsanwaltschaft weiter, die wiederum vor Gericht die Beschlagnahmung beantragte, nun aber in einer Strafsache wegen illegalem Schwangerschaftsabbruchs.

Während die Steuerstrafsache durch die Kooperation von Dr. Theißen relativ schnell beendet werden konnte (im Februar 1987 wurde er vom Amtsgericht Augsburg zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt), gewann das Strafverfahren wegen Schwangerschaftsabbruchs eine eigene Dynamik: Alle Patientinnen, bei denen nach 1980 ein Abbruch vorgenommen wurde, wurden befragt. Gegen 279 Frauen und 78 Männer wurden Ermittlungsverfahren wegen illegalem Schwangerschaftsabbruchs oder Beihilfe dazu eingeleitet. Die meisten davon endeten mit einem Strafbefehl. Nur wenige der Verurteilten legten Einspruch ein und riskierten ein öffentliches Gerichtsverfahren.

Das Verfahren

Der Verfahrensbeginn

Die Hauptverhandlung gegen Dr. Theißen wurde am 8. September 1988 vor der 1. Strafkammer des Memminger Landgerichts eröffnet. Die Kammer bestand aus dem vorsitzenden Richter Albert Barner, den weiteren Berufsrichtern Axel Heinrich und Detlef Ott sowie zwei Schöffen. Die Staatsanwaltschaft wurde durch die Staatsanwälte Herbert Krause und Johann Kreuzpointner vertreten. Dr. Theißen wurde von den drei Rechtsanwälten Wolfgang Kreuzer, Sebastian Cobler und Jürgen Fischer verteidigt.

Gleich zu Beginn der Verhandlung beantragte die Verteidigung die Einstellung des Verfahrens, weil die Beschlagnahmung der Patientenkartei als zentrales Beweismittel rechts- und verfassungswidrig sei. Begründet wurde dies damit, dass bei der Beschlagnahmung durch die Staatsanwaltschaft noch gar kein Anfangsverdacht bestanden habe, das Beweismittel somit juristisch verdorben sei und die enthaltenen Daten (auch gemäß früheren Urteilen des Bundesverfassungsgerichts) einen besonderen Vertrauensschutz besäßen. Der Antrag wurde vom Gericht abgelehnt. In der Folgezeit stellten die Verteidiger noch mehrere Befangenheitsanträge, weil sich Mitglieder der Strafkammer innerhalb und außerhalb des Verfahrens zu Bemerkungen hinreißen ließen, die als Voreingenommenheit verstanden werden könnten. Auch diese Anträge wurden abgelehnt. Brisant hieran war, dass die insgesamt sieben Richter der beiden Strafkammern des Gerichts sich dabei quasi gegenseitig ihre Unbefangenheit bescheinigten, bis schließlich das Oberlandesgericht München in Ermangelung entscheidungsbefugter Richter vor Ort einschreiten musste. Dieses Vorgehen des Memminger Landgerichts stellte bereits vor Prozessende einen Revisionsgrund dar und ging als „Befangenheitskarussell“ in die Berichterstattung ein.

Die Zeugenvernehmung

Vor Beginn des Verfahrens verschickte das Gericht einen mit der Staatsanwaltschaft ausgearbeiteten Fragebogen an alle Zeuginnen, die bei Dr. Theißen abtreiben ließen. Hierin wurde nicht nur nach der ärztlichen Betreuung und Beratung vor und nach dem Eingriff gefragt, sondern auch nach persönlichen, familiären und finanziellen Verhältnissen. Bei vollständiger und wahrheitsgemäßer Beantwortung wurde den Zeuginnen in Aussicht gestellt, nicht persönlich vor Gericht erscheinen zu müssen. 156 Frauen wurden als Zeuginnen vorgeladen, ihre Namen wurden im Prozess verlesen, 79 von ihnen wurden vor Gericht vernommen und zu intimsten Details teilweise öffentlich befragt, den restlichen 77 blieb schließlich zumindest der Auftritt vor Gericht erspart.

Die Art und Weise des Umgangs mit den Zeuginnen seitens des Gerichts und der Staatsanwaltschaft führte zu starken Reaktionen in Presse und Öffentlichkeit und machte den Prozess bundesweit bekannt. Die angespannte Atmosphäre wurde auch dadurch deutlich, dass die Staatsanwaltschaft einzelne Zeuginnen im Laufe des Prozesses versehentlich mit „Angeklagte“ anredete. Der an die Zeuginnen zugesandte Fragebogen schlug so hohe Wellen, dass er sogar in einer Aktuellen Stunde des Bundestages zur Abtreibungsthematik zitiert wurde.

Die geladenen Sachverständigen machten schließlich deutlich, dass die Entscheidung, ob eine Notlage für die Patientin vorliege, in jedem Fall eine Gratwanderung für den Arzt sei und immer im Kontext des Einzelfalls betrachtet werden müsse. Demgegenüber vertraten Gericht und Staatsanwaltschaft die Auffassung, dass die Gründe für einen Abbruch auch später gerichtlich nachvollziehbar sein müssen. Die Gültigkeit der ärztlichen Erkenntnis alleine würde hier rechtsfreie Räume schaffen.

Austausch eines Richters

Am 13. März 1989 erschien im Nachrichtenmagazin Der Spiegel ein Bericht über den beisitzenden Richter Detlev Ott, der im Sommer 1980 daran mitgewirkt haben soll, dass seine damalige Freundin ihre Schwangerschaft abbrach. Das Paar fuhr zu diesem Zweck nach Hessen, da die einzige Möglichkeit vor Ort die Praxis des späteren Angeklagten Dr. Theißen war. Der betreffende Richter hatte also genau das gemacht, wofür zuvor mehrere andere Männer eine Strafanzeige wegen Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch bekommen hatten. Zudem hatte gerade er, selbst in soliden finanziellen Verhältnissen lebend, besonders nachdrücklich Fragen zum finanziellen Hintergrund der Zeuginnen gestellt. Dem folgenden Ablehnungsgesuch der Verteidigung gab das Gericht schließlich statt, sein Platz wurde von der jungen Ergänzungsrichterin Barbara Grenzstein eingenommen.

Die Verteidigung stellte daraufhin einen weiteren Antrag auf Einstellung des Verfahrens, da das Verhalten dieses nun erwiesenermaßen befangenen Richters das Verfahren in einem solchen Ausmaß beschädigt habe, dass eine objektive Struktur des Prozesses nicht mehr gewährleistet sei. Nach zweitägiger Beratung wurde auch dieser Antrag vom Gericht abgelehnt.

Plädoyer der Staatsanwaltschaft

Sachbearbeiter und Sitzungsvertreter war Staatsanwalt Jörg Hillinger. Die Staatsanwaltschaft vertrat in ihrem Plädoyer den Standpunkt, dass ein Schwangerschaftsabbruch mit einem Tötungsdelikt gleichzusetzen sei und daher bei der Bewertung der in § 218 StGB genannten Ausnahmen strengste Maßstäbe angelegt werden müsse. Unter dem Hinweis der Möglichkeit finanzieller Beihilfen, staatlicher Betreuungseinrichtungen und der möglichen Freigabe zur Adoption erkannte die Staatsanwaltschaft in keinem einzigen Fall eine Notlageindikation an. Auch der drohende Verlust des Arbeitsplatzes oder die Abhängigkeit von Sozialhilfe waren aus ihrer Sicht keine ausreichende Rechtfertigungsgründe.

In einem über achtstündigen Plädoyer handelten die beiden Staatsanwälte abwechselnd jeden der insgesamt 156 Fälle einzeln ab. Die Beschreibungen der Begleitumstände ließen hierbei problemlos Schlüsse auch auf die Identität der 79 Frauen zu, die zuvor noch in, zu ihrem Schutz, nichtöffentlicher Sitzung aussagen mussten.

Die Staatsanwaltschaft forderte eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren, die somit nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann, sowie ein mehrjähriges Berufsverbot.

Plädoyer der Verteidigung

Das Plädoyer der Verteidigung bestand aus drei Teilen: Zunächst analysierte Dr. Fischer die Urteile und Gesetzesauslegungen seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Abtreibung von 1972. Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft ging er davon aus, dass die richterliche Erkenntnis die ärztliche nicht ersetzen kann und auch nicht darf. Dr. Kreuzer knüpfte hieran an, nahm exemplarisch die Fälle einiger Frauen heraus und zeigte Widersprüche bei der Bewertung der Notlagesituationen durch die Staatsanwaltschaft auf. Dr. Cobler kritisierte schließlich, dass der Begriff Notlage im Prozess oft nur als finanzielle Notlage interpretiert wurde, die buchhalterisch erfassbar sein müsse. Das Plädoyer der Staatsanwaltschaft kommentierte er mit den Worten: „Wenn es nach der Staatsanwaltschaft ginge, dann gäbe es hier nicht eine einzige Notlage die von Belang wäre – außer vielleicht der des trefflichen Richters Ott.“

Die Verteidigung sah in den Fällen, in denen Dr. Theißen gegen die Vorschrift der Indikationsfeststellung durch einen zweiten Arzt verstoßen hatte, eine Verwarnung mit Strafvorbehalt als ausreichend an. Im zentralen Anklagevorwurf, Verstoß gegen § 218 StGB, forderte sie Freispruch.

Das Urteil

Dr. Theißen wurde wegen mehrfachen Schwangerschaftsabbruchs unter Einbeziehung der bereits rechtskräftigen Verurteilung wegen Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt, zudem wurde ein dreijähriges Berufsverbot verhängt. In der mündlichen Urteilsbegründung schloß sich Richter Barner inhaltlich zu großen Teilen der Argumentation der Staatsanwaltschaft an. Die ärztliche Erkenntnis dürfe sich der gerichtlichen Überprüfung nicht entziehen, die Schwierigkeiten der Lebenswirklichkeit seien nicht automatisch eine Notlage. Aufgrund der Anzahl der Gesetzesverstöße komme eine Bewährungsstrafe nicht mehr in Frage.

Nach dem ersten Urteil

Nach dem Urteil legte Dr. Theißen Revision beim Bundesgerichtshof ein. Dieser hob das Urteil im Strafausspruch auf und verwies das Verfahren zur erneuten Hauptverhandlung an das Landgericht Augsburg zurück, weil „aufgrund der vergifteten Atmosphäre in Memmingen ein objektives Urteil nicht mehr gewährleistet scheint“. In der erneuten Hauptverhandlung wurde der Arzt schließlich zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt; auf ein Berufsverbot wurde nicht erkannt.

Dr. Theißen erhob wegen der Verwertung der Patientenkartei im Prozess Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht an, die jedoch im Mai 2000 abgewiesen wurde. Er arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Arzt in einer Praxis für Naturheilkunde und Homöopathie in Hessen.

Von den ursprünglich 156 Fällen in der Anklageschrift des Memminger Prozesses wurden 77 im Laufe des Verfahrens eingestellt. Von den übrigen 79 Fällen wurde im erstinstanzlichen Urteil 36 Mal auf illegalen Schwangerschaftsabbruch nach § 218 StGB und vier Mal auf Versuch hierzu erkannt. Bei den restlichen 39 Fälle wurde zwar keine Indikationsfeststellung durch einen zweiten Arzt vorgenommen (Verstoß gegen § 219 StGB), das Vorliegen einer Notlage aber implizit durch das Gericht anerkannt.

Somit hatten die meisten der 259 Frauen, die im Vorfeld des Prozesses Strafbefehle vom Memminger Amtsgericht erhalten und sich nicht gerichtlich dagegen gewehrt hatten, diese umsonst bezahlt.

Quellen und Literatur

  • Gisela Friedrichsen: Abtreibung: Der Kreuzzug von Memmingen (Report aktuell) Orell Füssli, 1989, ISBN 3280019206
  • "Memmingen: Abtreibung vor Gericht. Eine Dokumentation und Einschätzung zum Prozess" von Elke Kügler, 1989, ISBN 3923722362
  • ZDF Film: Abgetrieben 1992, 90 Minuten http://www.abortionfilms.org/detail.php?lang=de&xp=24
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