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Fragiles-X-SyndromDas Fragiles-X-Syndrom ist eine der häufigsten Ursachen erblicher kognitiver Behinderung des Menschen. Ursache hierfür ist eine genetische Veränderung auf dem X-Chromosom, eine Mutation des Gens FMR1 (fragile X mental retardation 1). Das Fragile X-Syndrom wird nach seinen Erstbeschreibern auch als Martin-Bell-Syndrom (MBS) oder Marker-X-Syndrom sowie in der abgekürzten Form als fra(X)-Syndrom bezeichnet. Die Behinderung kann in ihrer Schwere stark variieren und von leichten Lernschwierigkeiten bis zu extremer kognitiver Beeinträchtigung reichen. Der Name leitet sich aus der Beobachtung von Zellkulturen betroffener Menschen ab. Unter entsprechenden Kulturbedingungen kann am X-Chromosom in einem Teil der Zellen eine Bruchstelle, der sogenannte fragile Bereich, nachgewiesen werden. Weiteres empfehlenswertes Fachwissen
SymptomeVom Fragiles-X-Syndrom können sowohl Männer als auch Frauen betroffen sein. Das Leitsymptom ist eine unterschiedlich stark ausgeprägte Intelligenzminderung, deren Schwere von Lernproblemen bis hin zu schwergradiger kognitiver Beeinträchtigung reichen kann und mit Sprachstörungen und Aufmerksamkeitsdefiziten einhergeht. Bei Kindern sind bei etwa 12 % der Betroffenen autistische Verhaltensweisen ausgeprägt, beinahe 20 % der Kinder bekommen Krampfbeschwerden (Epilepsie). Bei Frauen sind die Symptome häufig milder ausgeprägt, was auf die zufällige Inaktivierung eines der beiden X-Chromosomen in weiblichen Zellen zurückzuführen ist. Bei 80 % der betroffenen Männer findet sich eine Hodenvergrößerung, die schon vor der Pubertät auftreten kann. Weitere körperliche Symptome können eine vorspringende Stirn, abstehende und große Ohren und ein hervorstehendes Kinn bei gleichzeitig bestehendem schmalen Gesicht sein. VerbreitungDie Häufigkeit des Fragiles-X-Syndroms wird in der Literatur sehr breit angegeben, da in vielen Studien auch unterschiedliche Bemessungsgrundlagen für eine Vollmutation angelegt wurden. Im Schnitt beträgt die Häufigkeit 1:1.200 bei Männern und 1:2.500 bei Frauen. Damit stellt diese Besonderheit nach dem Down-Syndrom (Trisomie 21) die häufigste Form von genetisch bedingter kognitiver Behinderung dar. DiagnoseBis zur Entdeckung des zugrundeliegenden Gens im Jahre 1991 war der Nachweis einer Lücke im X-Chromosom in Zellkulturen das einzige, allerdings recht unzuverlässige Verfahren, da in benachbarten Genbereichen ebenfalls fragile Stellen auftreten. Die Diagnostik erfolgt heute über molekulargenetische Analysemethoden aus einer Blutprobe mittels Polymerase-Kettenreaktion (PCR) und Southern Blot. Bleibt trotz negativer Befunde ein Verdacht, kann mittels immunohistochemischer Diagnostik mit monoklonalen Antikörpern direkt die FMR-Proteinkonzentration bestimmt werden. Für Feten mit erhöhtem Risiko kann pränatal entweder eine Amniozentese in der 16.-18. Schwangerschaftswoche (SSW) oder eine Chorionzottenbiopsie in der 10.-12. SSW durchgeführt werden. DifferenzialdiagnoseDa die Symptome in früher Kindheit oft unspezifisch sind und Entwicklungsverzögerungen für viele Menschen in Betracht kommen, ist die Differenzialdiagnose vergleichsweise schwierig. Insbesondere in Betracht kommen das Sotos-Syndrom, das Prader-Willi-Syndrom, Autismus und die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADS), mit der das Fragiles-X-Syndrom anscheinend mehrere auslösende Gene teilt. Bei Kindern mit Sprech-, Sprachverzögerung und motorischen Defiziten sollte deshalb ein Test auf Fragiles-X-Syndrom in Betracht gezogen werden, insbesondere bei entsprechender Familienanamnese. GeschichtlichesDas Fragiles-X-Syndrom wurde 1943 erstmalig durch James Purdon Martin (1893-1984) und Julia Bell anhand einer Familie mit elf kognitiv zurückgebliebenen Männern unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten beschrieben. Schon hier wurde ein X-chromosomaler Erbgang angenommen. Erst 1969 konnte dies durch Herbert Lubs an einer vierköpfigen Familie mit zwei betroffenen Männern und zwei nicht betroffenen Frauen nachgewiesen werden. In seinen Zellkulturen beobachtete er ein Zusammenziehen des längeren Armes (q-Arm) in X-Chromosomen. Eine derartige Mutation konnte später auch in der ersten Familie nachgewiesen werden. Die Entdeckung geriet zunächst in Vergessenheit, bis Grant Sutherland durch Zufall herausfand, dass der entsprechende Nachweis nur in einem Folsäure-freien Kulturmedium nachvollziehbar ist: Bei seinem Umzug von Melbourne nach Adelaide, wo ein anderes Kulturmedium eingesetzt wurde, welches bessere Chromosomenfärbungen ermöglichte, konnten seine Ergebnisse zunächst nicht wiederholt werden, bis er wieder das vorherige Kulturmedium einsetzte. Bei der Vererbung des Fragiles-X-Syndroms war lange Zeit ungeklärt, warum es nicht immer mit anderen X-chromosomal gebundenen Erbgänge übereinstimmte. Insbesondere wurden auch heterozygote Überträgerinnen festgestellt, die eigentlich symptomfrei bleiben sollten. Dieses Phänomen veranlasste 1985 Stephanie Sherman und ihre Mitarbeiter zu einer genaueren Untersuchung der Stammbäume. Dabei stellten sie fest, dass Töchter eines nicht betroffenen Überträgers eine höhere Wahrscheinlichkeit besaßen, betroffene Nachkommen zu erhalten. Daraus schlussfolgerten sie, dass die Mutation in zwei Schritten erfolgen müsste, die im ersten Schritt noch symptomfrei bleibt und im zweiten nur bei der Übertragung von Frauen auf ihre Nachkommen erfolgt. Diese Beobachtungen sind in der Medizin seitdem als Sherman-Paradoxon bekannt. Das die Erkrankung verursachende mutierte Gen wurde 1991 von mehreren Forschern gemeinsam entdeckt und das Syndrom in die Gruppe der Trinukleotiderkrankungen eingeordnet (Verkerk et al. 1991). Genetische UrsacheGenetische Ursache ist eine Veränderung des 38kb großen Gens FMR1 ( Fragile X linked Mental Retardation type 1 ) in der Bande Xq27.3 des X-Chromosoms. Es besteht aus 17 Exons und enthält eine sich wiederholende Sequenz aus CGG-Trinukleotdiden. Der Normalbereich dieser Basentripletts pro Allel beträgt 6 bis 44 Wiederholungen, die in der Regel durch 2 AGG Tripletts an Position 9/10 oder 19/20 unterbrochen werden. Am häufigsten kommen 29 bis 30 Tripletts in der Normalbevölkerung vor.
Bei Menschen mit dem Fragiles-X-Syndrom treten zwei Arten von Mutationen in diesem Genbereich auf, die durch Verlängerung der CGG-Tripletts zustande kommen (Trinukleotidrepeat-Erkrankung). 59 bis 200 Wiederholungen werden als Prämutation bezeichnet und können im höheren Lebensalter mit einem eigenen Krankheitsbild, dem Fragilen-X Tremor und Ataxie Syndrom (FXTAS) einhergehen. Die Prämutation stellt eine Vorstufe der krankheitsverursachenden Vollmutation dar, die ab 200 oder mehr Wiederholungen gegeben ist. Dies führt zu einer Methylierung (einer Anlagerung von Methyl-Gruppen) des entsprechenden DNA-Abschnittes und damit zu einer Stilllegung der Genexpression des FMR-Proteins. Die Funktion dieses Proteins ist derzeit Gegenstand intensiver Forschung, wahrscheinlich ist es ein Schlüsselprotein bei der Herstellung weiterer Proteine, deren Fehlen zur Atrophie von Hirnzellen führt (Reiss et al. 1991). Die Methylierung führt auch zu dem Auflockern im betroffenen Bereich der Struktur des Chromosoms und damit zu dem typischen Bild des fragilen Bereiches. Eine Anzahl von 45 bis 58 Wiederholungen der CGG-Tripletts wird als „graue Zone“ bezeichnet, bei der die Allele in der Regel stabil auf die Nachkommen übertragen werden. Da fast 2 % der Normalbevölkerung ein solches FMR1-Allel besitzen, ist dieser Bereich für die genetische Beratung prognostisch schwierig. Die bisher kleinste bekannte Prämutation, bei der in einer Familie innerhalb einer Generation eine Vollmutation entstand, hatte 59 Tripletts. Ein Fehlen der eingeschobenen AGG Tripletts bei langen Prämutation wird für die Instabilität zur Vollmutation hin verantwortlich gemacht. In Einzelfällen sind auch de novo Punktmutationen des Gens bekannt, die die Funktionsweise des FMR Proteins beeinträchtigen. Die Anzahl der Triplett-Wiederholungen steigt im Verlauf aufeinander folgender Meiosen. Dies erklärt auch die Zunahme der Schwere der Krankheit im Verlauf der Generationen. Die molekulare Ursache für die Triplett-Expansion ist möglicherweise das Verrutschen (slippage) der neu synthetisierten DNA-Stränge an den Replikationsgabeln während der Meiose. VererbungDas Fragiles-X-Syndrom ist ein erblich bedingtes Syndrom, welches entsprechend in einigen Familien gehäuft auftreten kann. Da die Genmutation, die dieser Besonderheit zugrunde liegt, nur am X-Chromosom auftritt, müsste die Vererbung eigentlich auch der anderer X-chromosomaler Erbgänge folgen, im Fall des fra(X) gibt es allerdings einige bislang nicht geklärte Abweichungen hiervon. Der X-chromosomale ErbgangDer X-chromosomalen Erbgang beruht darauf, dass Frauen jeweils zwei X-Chromosomen, Männer jedoch immer nur eines besitzen. Entsprechend geben Frauen immer ein X-Chromosom an ihre Nachkommen weiter, Männer können entweder ein X-Chromosom oder ein Y-Chromosom vererben und entsprechend festlegen, ob die Nachkommen männlich oder weiblich sind. Im Falle von X-chromosomalen Mutationen ergibt sich dabei ein typischer Erbgang, der sich durch folgende Eigenschaften auszeichnet:
Aus diesen Gründen treten die Symptome einer X-chromosomalen Mutation wie etwa der Bluterkrankheit vor allem bei Männern auf, während Frauen häufiger nur Überträgerinnen des fehlerhaften Gens sind. Nur im ungünstigen Fall, dass die Töchter sowohl von der Mutter als auch vom Vater ein mutiertes Gen erhalten, prägt sich die Mutation auch bei den Frauen aus. Abweichungen vom X-chromosomalen ErbgangBeim Fragiles-X-Syndrom gibt es jedoch einige Besonderheiten, die nicht dem oben beschriebenen Erbgang entsprechen:
Die Gründe für diese Besonderheiten im Erbgang sind bislang ungeklärt. Gemeinhin wird versucht, sie durch äußere Einflüsse auf das Gen zu erklären. BeratungsgrundlagenFür die genetische Beratung ergeben sich somit folgende Konstellationen:
Neurobiologie des Fragiles-X-SyndromsZur Erforschung der neurobiologischen Grundlagen, die die Symptomatik des Fragiles- X-Syndroms (FXS) hervorrufen, wurde ein Tiermodell entwickelt. Dabei handelt es sich um eine sogenannte FMR1-Knockout-Maus, einen Mausstamm, bei dem durch geeignete molekularbiologische Methoden gezielt das FMR1-Gen entfernt wurde. Die Deletion von FMR1 in Mäusen ist von einigen Symptomen begleitet, wie sie auch für FXS-Patienten charakteristisch sind. Dazu gehören die Hyperaktivität, die epileptischen Anfälle und die Vergrößerung der Hoden. Im Gegensatz dazu waren Beobachtungen eines geringeren Lernvermögens der FMR1-knockout-Mäuse nicht direkt auf den Menschen übertragbar, auch wegen der geringen Vergleichbarkeit der kognitiven Fähigkeiten zwischen Mäusen und Menschen. Neuere Befunde zeigen jedoch, dass eine einfache Form des assoziativen Lernens, und zwar der klassischen Konditionierung, die beim Menschen und bei Mäusen gleichermaßen anzutreffen ist und den gleichen Mechanismen gehorcht, sowohl in FMR1-knockout-Mäusen als auch FXS-Patienten schwer beeinträchtigt ist. Dabei handelt es sich um die Konditionierung des Blinkreflexes. Die Konditionierung des Blinkreflexes kann sowohl im Tierversuch als auch am Menschen durchgeführt werden. Die neuronalen Schaltkreise, die für eine korrekte Anpassung des Reflexes verantwortlich sind, sind sehr gut bekannt und eingehend untersucht. Die beteiligten Neurone befinden sich im Kleinhirn. Von zentraler Bedeutung für die Konditionierung des Blinkreflexes ist eine Form der synaptischen Plastizität an der Parallelfasersynapse der Purkinjezellen. Der Befund, dass die Konditionierung des Blinkreflexes in FXS-Patienten verschlechtert ist, kann durchaus therapeutische Bedeutung gewinnen. Man könnte den Blinkreflex als Parameter verwenden, um die Wirksamkeit möglicher Therapien ganz objektiv zu messen. Corticale Nervenzellen der FMR1-knockout-Mäuse sowie der FXS-Patienten weisen eine erhöhte Anzahl und größere durchschnittliche Länge der Dornfortsätze (sog. spines) auf. Das lässt auf eine synaptische Funktion des FMR1-Proteins schließen. Das FMR1-Protein ist ein RNA-bindendes Protein. Man nimmt heute an, dass eine seiner Funktionen darin besteht, die Translation der gebundenen RNA solange zu hemmen, wie diese unterwegs vom Zellkern im Perikaryon zum Dendriten ist. Dort funktioniert das FMR1-Protein dann als eine Art Schalter, der die RNA freigibt und deren Translation als Antwort auf synaptische Signale ermöglicht. Demnach gehört das FMR1-Protein zu den Faktoren, die für eine aktivitätsabhängige Proteinsynthese an Synapsen erforderlich sind. Die mGluR-Theorie des FXS BehandlungAufgrund der genetischen Ursache ist eine Heilung nicht möglich. Symptomatisch kann nach eingehender kinderpsychiatrischer, pädiatrischer und neurologischer Untersuchung ein individuelles Förderprogramm erstellt werden, welches Verhaltenstherapie, Ergotherapie, Musiktherapie und logopädische Betreuung einschließt. Diese Programme können sehr erfolgreich sein, wenn ein günstiges Setting hergestellt wird. Weiterhin können in Deutschland über die zuständigen Gesundheitsämter sowie die Kreissozialämter als Kostenträger „Maßnahmen zur Wiedereingliederung“ nach SGB XII §§53 ff beantragt werden. Siehe auchLiteraturWissenschaftliche Literatur
Weitere Literatur
Eine umfangreiche Literaturdatenbank stellt die Interessengemeinschaft Fragiles-X e.V. zur Verfügung.
Kategorien: Genetische Störung | Krankheitsbild in der Kinderheilkunde |
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Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Fragiles-X-Syndrom aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar. |