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Libet-Experiment



Als Libet-Experiment wurde ein Versuch zur Messung der zeitlichen Abfolge einer bewussten Handlungsentscheidung und ihrer motorischen Umsetzung bekannt, den der Physiologe Benjamin Libet 1979 durchgeführt hat. Seine Bedeutung für die Philosophie des Geistes war Gegenstand lebhafter Diskussionen; noch heute wird das Experiment häufig in der Debatte über die menschliche Willensfreiheit angeführt.

Inhaltsverzeichnis

Versuchsaufbau und -durchführung

Libets Ausgangspunkt war ein EEG-Experiment, das Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke 1965 veröffentlicht hatten. Es zeigte, dass zwischen der Vorbereitung einer einfachen Handbewegung im Motorkortex und ihrer tatsächlichen Ausführung etwa eine Sekunde verstreicht. Libets Alltagserfahrung war, dass die empfundene Zeit zwischen Handlungswunsch und -ausführung sehr viel kürzer ist.

Ziel seines Versuchs war es daher, möglichst exakt festzustellen, wann der Proband eine bewusste Handlungsentscheidung trifft, ab wann der motorische Kortex die Ausführung der Handlung vorbereitet und wann die betreffende Muskulatur tatsächlich aktiviert wird. Ein Elektromyogramm (EMG) erlaubte eine genaue Messung der Muskelaktivität; auch zur Messung des Bereitschaftspotentials im Kortex existierte mit dem EEG eine etablierte Messmethode.

Allerdings erschien es problematisch, den Zeitpunkt der Willensentscheidung festzustellen, da jedes äußere Zeichen des Probanden zwangsläufig mit jener Latenzzeit behaftet wäre, die der Versuch ja erst ermitteln sollte. Libet entschied sich dafür, seine Versuchspersonen auf eine schnell laufende Uhr blicken zu lassen, die er durch einen Lichtpunkt auf einem Oszilloskop realisierte, der innerhalb von 2,56 Sekunden einen vollständigen Kreis beschrieb. Nach Beendigung des Experiments sollten die Probanden die Stellung der Uhr zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung berichten.

Um die Exaktheit dieses Verfahrens zu überprüfen, wurde in einem Vorexperiment eine Hautpartie der Probanden elektrisch gereizt; diese sollten mittels der Oszilloskop-Uhr den Zeitpunkt der Stimulierung feststellen. Hierbei ergab sich eine hinreichend geringe Varianz bei einer mittleren Abweichung von -50ms gegenüber dem wahren Zeitpunkt des Reizes.

Im eigentlichen Versuch wurden die Probanden darum gebeten, einen völlig beliebigen Zeitpunkt zu wählen, um die rechte Hand zu bewegen, sowie sich den Stand der Uhr zu jenem Zeitpunkt zu merken. In einigen Fällen sollen sie einem auftretenden Handlungswunsch möglichst spontan nachkommen, in anderen zwischen Handlungswunsch und Ausführung bis zu einer Sekunde verstreichen lassen, die Bewegung also gewissermaßen vorausplanen.

Ergebnis

Bei der Auswertung der Messergebnisse wurde der Nullpunkt der Zeitskala stets auf den Beginn der Muskelaktivierung gelegt, der anhand des EMG zweifelsfrei festzustellen war. Dieser Bezugspunkt diente der Mittelung von 40 EEG-Aufzeichnungen des jeweils gleichen Probanden. Eine solche Durchschnittsbildung ist aufgrund des geringen Signal-Rausch-Verhältnisses bei EEG-Versuchen üblicherweise nötig, um die Daten überhaupt auswerten zu können.

Relativ dazu waren die gemessenen Zeiten im Mittel wie folgt:

  • Bei −1050ms trat das Bereitschaftspotential auf, wenn der Proband eine Vorausplanung der Bewegung berichtete;
  • Bei −550ms setzte das Bereitschaftspotential von spontanen Handlungen ein;
  • Der berichtete Zeitpunkt des Handlungswunsches lag in beiden Fällen gleichermaßen bei −200ms.

Das Bemerkenswerte an diesem Ergebnis ist, dass der Zeitpunkt, zu dem der subjektive Handlungswunsch empfunden wird, in jedem Fall deutlich nach dem Punkt liegt, an dem der motorische Kortex die Bewegung vorzubereiten beginnt. Akzeptiert man das Vorexperiment als Hinweis darauf, dass die Versuchspersonen in der Lage waren, den bewusst empfundenen Handlungswunsch korrekt zu datieren, so folgt daraus, dass der Handlungswunsch die Aktivierung des Motorkortex nicht kausal verursachen konnte.

Versuch von Haggard und Eimer

Libets Ergebnisse sorgten für eine kontroverse Diskussion, in deren Verlauf unter anderem die korrekte Durchführung des Experiments in Zweifel gezogen und bemängelt wurde, dass die Versuchsperson keine Möglichkeit hatte, eine echte Entscheidung zu treffen, sondern lediglich den Zeitpunkt einer bereits vor dem Starten der Uhr beschlossenen Bewegung festzulegen.

Der Neurophysiologe Patrick Haggard und der Psychologe Martin Eimer wiederholten daher 1999 den Versuch in abgewandelter Form. Sie führten eine Handlungsalternative ein (der Proband sollte erst während des Versuchs entscheiden, ob er den rechten oder den linken Zeigefinger bewegen wollte) und maßen das für die gewählte Bewegung spezifischere lateralisierte Bereitschaftspotential.

Auch im Versuch von Haggard und Eimer lag die Aktivierung des Motorkortex im Mittel vor dem berichteten Zeitpunkt der bewussten Handlungsentscheidung.[1] Dennoch bestehen auch weiterhin methodische Einwände: Der mittlere Zeitpunkt der Handlungsentscheidung in Libets Versuch und verschiedenen Nachfolge-Experimenten variiert stark; auch innerhalb der Versuche ist die Varianz zwischen den Probanden beträchtlich. So lag der Handlungswunsch bei Haggard und Eimer bei zwei von acht Personen vor dem lateralisierten Bereitschaftspotential.

Erklärt werden diese Abweichungen einerseits dadurch, dass der Handlungswunsch kein hinreichend exakt beschreib- und datierbares Ereignis sei, um von den Probanden einheitlich berichtet zu werden. Außerdem ist bekannt, dass die relative Datierung von Eindrücken unterschiedlicher Sinnesmodalitäten von der Aufmerksamkeit abhängig ist: Reize, auf denen die Aufmerksamkeit lag, werden relativ zu anderen Reizen vordatiert. Derartige Effekte könnten auch die Genauigkeit der eingesetzten Uhr beeinträchtigen.

Interpretation Libets

Libet selbst folgerte zunächst aus seinen Resultaten, dass der Entschluss zu handeln von unbewussten Gehirnprozessen gefällt wird, bevor er als Handlungswunsch ins Bewusstsein dringt; die bewusste Entscheidung sei somit nicht ursächlich für die Handlung. Dadurch sah er die Willensfreiheit und Verantwortlichkeit des Menschen in Frage gestellt.

Kurz darauf ging Libet zu der These über, dass es ein Zeitfenster von ca. 100ms gebe, innerhalb dessen der bewusste Wille eine bereits eingeleitete Handlung noch verhindern könne (Veto-Funktion des Willens). Er untermauerte diese Position mit weiteren Experimenten die zeigten, dass ein Bereitschaftspotential nicht zwingend zu einer Handlung führt, sondern bis ca. 50ms vor der Muskelaktivierung noch abgebrochen werden kann. Die angeführten 100ms errechnete er aus den 200ms vom bewussten Handlungswunsch bis zur Muskelaktivierung, abzüglich der 50ms, innerhalb derer die Bewegung nicht mehr aufzuhalten ist, sowie korrigiert um die 50ms, die sich im Vorexperiment als systematischer Ablesefehler der Uhr ergeben hatten.

Libet spekuliert nun, dass das Veto selbst nicht unbewusst eingeleitet werde, sondern unmittelbar auf bewusster Ebene stattfinde. Diese Vermutung stützt er nicht auf experimentelle Befunde; zur Begründung weist er statt dessen darauf hin, dass ihn davon abweichende Annahmen zu Schlussfolgerungen über die Willensfreiheit führen würden, die er für unbefriedigend hält. Unter Verweis auf die prohibitive Formulierung vieler ethischer Regeln ("Du sollst nicht...") sieht er aufgrund dieser Argumentation die moralische Verantwortlichkeit des Menschen wieder hergestellt.[2]

Kritik an dieser Interpretation

Einige Kritiker finden Libets Interpretation nicht radikal genug und gehen über sie hinaus. So stützt sich der Biologe Gerhard Roth unter anderem auf das Libet-Experiment und seine Nachfolge-Versuche, wenn er behauptet: „Das bewusste, denkende und wollende Ich ist nicht im moralischen Sinne verantwortlich für dasjenige, was das Gehirn tut, auch wenn dieses Gehirn ‚perfiderweise‘ dem Ich die entsprechende Illusion verleiht.“[3]

Andere Stimmen weisen dagegen darauf hin, dass der Versuchsaufbau weder konzipiert wurde, um Aussagen zu Willensfreiheit und moralischer Verantwortlichkeit treffen zu können, noch dazu geeignet ist.

Manche Kritiker meinen, dass alltäglichen Willenshandlungen nicht unbedingt ein Handlungswunsch voraus gehe. Dass die Probanden überhaupt einen solchen Wunsch berichteten, sei auf die Versuchsanweisung zurückzuführen und die hohe Varianz der angegebenen Zeitpunkte (siehe oben) weise darauf hin, dass dieser Wunsch nicht klar greifbar sei.

So vertreten etwa Bennett und Hacker[4] die Auffassung, dass es charakterisierendes Merkmal einer Willensentscheidung sei, dass sie unter Kontrolle der Person erfolge. Das Verspüren eines Handlungswunsches oder ­-bedürfnisses sei hierfür weder ein notwendiges noch ein hinreichendes Kriterium. Als Beispiele führen sie das Ergreifen eines Stifts an, um etwas niederzuschreiben; dieses sei willkürlich, aber nicht von dem Wunsch begleitet, den Stift aufzuheben. Einem Niesen gehe dagegen ein entsprechendes Bedürfnis voraus, dennoch würde man es als unwillkürlich bezeichnen. Folglich ermögliche das Libet-Experiment keine Aussagen über Willensentscheidungen.

Zur gleichen Schlussfolgerung kommen Kritiker, die darauf hinweisen, dass die Entscheidung des Probanden im Versuch von Haggard und Eimer keine Abwägung rationaler und emotioneller Gründe erfordere, wie sie für Entscheidungen des freien Willens charakteristisch seien. Komplexen Handlungen gehe zudem eine Planungsphase voraus, die zeitlich zweifellos vor dem ersten Bereitschaftspotential der Ausführung liege.

Folgt man diesen Argumentationen, sind die philosophischen Implikationen der Ergebnisse von Libet bzw. Haggard und Eimer gering: Zwar sind sie geeignet, einfache dualistische Vorstellungen von der Wirkung des Geistes auf den Körper in Frage zu stellen; sie erlauben jedoch keine weitergehenden Aussagen zur Frage nach der Willensfreiheit.

Ein weiterer Einwand gegen die freiheitspessimistischen Interpretationen der Libet-Experimente richtet sich an die Kausalitätsbeziehungen der betrachteten Ereignisse. Im Falle der Probanden, die vor dem Experiment über den Ablauf instruiert worden sind, erscheint es plausibel, dass sie eine gewisse Erwartungshaltung entwickelt haben und sich kognitiv mit der zuvorstehenden "Handlung" intentional auseinandersetzen. Auf der neurophysiologischen Ebene erscheint es ähnlich plausibel, dass ein für die Fingerbewegung entsprechendes neuronales Pattern bereitgestellt wird. Dieses würde dem betrachteten Bereitschaftspotential entsprechen.

Dass irgendwann vor einer Handlung oder Aktivität ein dafür entsprechendes neurophysiologisches Bereitschaftspotential zur Verfügung gestellt wird, stellt aus logischen Gründen gar eine Notwendigkeit dar für unser Verständnis unseres Tuns. Die Libet-Experimente unterstützen eine solche These. Dass der Beginn des besagten Bereitschaftspotentials über eine kausale Wirkung auf die Körperbewegung verfügt, erscheint unwahrscheinlich. Denn es ist anzunehmen, dass unser Gehirn ständig irgendwelche Bereitschaftspotentiale entwickelt. Die Ergebnisse Libets stützen die These der kausalen Funktion des Beginns des Bereitschaftspotentials nicht ansatzweise. Kausale Kraft kann jedoch ein handlungsauslösender Wille (Grund, Intention, Wunsch) ausüben, der nach unserem Erleben quasi gleichzeitig mit der tatsächlichen Bewegung auftritt.

Quellen

  1. Patrick Haggard und Martin Eimer: On the Relation between Brain Potentials and the Awareness of Voluntary Movements. Experimental Brain Research 126:128–133, 1999 (PDF, 88kB)
  2. Benjamin Libet: Haben wir einen freien Willen? In: Christian Geyer (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Suhrkamp, 2004, S. 268ff. ISBN 3-518-12387-4
  3. Gerhard Roth: Aus Sicht des Gehirns. Suhrkamp, 2003, S.180. ISBN 3-518-58383-2
  4. M.R. Bennett und P.M.S. Hacker: Philosophical Foundations of Neuroscience. Blackwell Publishing, 2003, S.228ff. ISBN 1-4051-0838-X
 
Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Libet-Experiment aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.
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