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Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung
Als Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (komplexe PTBS) wird ein psychisches Krankheitsbild bezeichnet, das sich infolge schwerer, anhaltender Traumatisierungen (z.B. Misshandlungen oder sexueller Missbrauch, physische und/ oder emotionale Vernachlässigung in der Kindheit, existenzbedrohende Lebensereignisse) entwickeln kann. Es kann sowohl direkt im Anschluss an die Traumata, als auch mit zeitlicher Verzögerung (Monate bis Jahrzehnte) in Erscheinung treten. Im Unterschied zur Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist es durch ein breites Spektrum kognitiver, affektiver und psychosozialer Beeinträchtigungen gekennzeichnet, die über einen längeren Zeitraum bestehen bleiben. Der Begriff Komplexe PTBS (engl. Complex PTSD) wurde für dieses Krankheitsbild erst 1992 durch Judith Herman eingeführt[1] und ist im deutschen Sprachraum bislang noch nicht vollständig etabliert. Weiteres empfehlenswertes Fachwissen
BegriffsgeschichteDer Begriff geht zurück auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Definition und den diagnostischen Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die 1980 in der dritten Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-III) der American Psychiatric Association (APA) publiziert wurden. Die diagnostischen Kriterien der PTBS konzentrierten sich auf Symptome, die bei Kriegsteilnehmern beobachtet worden waren und eigneten sich nicht dazu, auch die Störungsbilder zu beschreiben, die bei missbrauchten Kindern beobachtet werden konnten. Insbesondere eigneten sich die PTBS-Kriterien nicht zur Diagnostik von psychischen Problemlagen, die sich etwa als Spätfolgen des Kindesmissbrauchs im Jugend- und Erwachsenenalter entwickelten.[1] Basierend auf den daraufhin von der DSM-Arbeitsgruppe der APA initiierten Felduntersuchungen ließ sich ein komplexeres Krankheitsbild identifizieren, das im Gefolge schwerer Traumatisierungen wie körperlicher oder sexueller Missbrauchserfahrungen, aber auch bei Kriegs- und Foltererfahrungen oder Entführungen entsteht und als „Störung durch Extrembelastung, nicht andersweitig bezeichnet“ („Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified“ (DESNOS), Anhang DSM IV) begrifflich gefasst wurde. Diese Kategorie soll voraussichtlich in der nächsten Überarbeitung des DSM als "Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung" neu gefasst und aufgenommen werden. [2](S.48) Ein sehr ähnliches Krankheitsbild wird in der ICD-Diagnose F62.0 „Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung“ beschrieben. Erscheinungsbild, Häufigkeit und VerlaufSymptomeIm Rahmen einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung können im Verlauf der Erkrankung eine Vielzahl von Symptomen auftreten. Legt man die diagnostischen Kriterien zugrunde, mit denen die sehr ähnliche DESNOS beschrieben wurde, lassen sich die Symptome aber sechs übergeordneten Bereichen zuordnen:
HäufigkeitUnter anderem wegen der nicht abschließend geklärten Überschneidungen mit anderen psychischen Krankheitsbildern existieren nur wenige Erkenntnisse über die Prävalenz der komplexen PTBS. Die Lebenszeitwahrscheinlichkeit einer „einfachen“ PTBS liegt in der deutschen Allgemeinbevölkerung nach derzeitigem Erkenntnisstand zwischen 2% und 7%; amerikanische Studien sprechen von 5%-10%. Für ca. zwei Drittel dieser Personen besteht das Risiko einer Chronifizierung. Unter den schwer traumatisierten Personen finden sich in den westlichen Industriestaaten etwa doppelt so viele Frauen wie Männer, was sich in dem deutlich höheren Anteil von jungen Mädchen und Frauen unter den Opfern sexuellen Missbrauchs gründen könnte. [3] VerlaufDie Komplexität und Individualität des Krankheitsbildes spiegelt sich vor allem in dem sehr variablen Verlauf und den unterschiedlichen Ausprägungen wieder.[4] Häufig zeigen sich die Auswirkungen der Traumata lange Zeit gar nicht oder nur mit einzelnen Symptomen. Bei den leichteren Formen dieses Krankheitsbildes gelingt es den Betroffenen daher oft über lange Zeit, sich damit zu arrangieren - sofern sie über psychische und soziale Ressourcen zur Bewältigung und Kompensation (sog. protektive Faktoren) verfügen. Insgesamt besteht jedoch eine hohe Chronifizierungsneigung.[5] Nach den Ergebnissen des US-amerikanischen „National Comorbidity Survey“ kam es nur bei ungefähr einem Drittel der in der Studie erfassten PTBS-Fälle bereits nach einem Jahr zu einem deutlichen Symptomrückgang, bei den anderen zwei Dritteln konnten hingegen auch noch nach zehn Jahren Symptome auftreten. Außerdem lagen bei ca. 80% der Fälle Begleitstörungen vor, welche die psychische Belastung erhöhten. Aufgrund der Heterogenität des Störungsbildes werden bei den Betroffenen oftmals abweichende Diagnosen gestellt, die sich lediglich an Einzelsymptomen, beispielsweise Angststörungen, Depressionen oder Neurotische Störungen, orientieren. Wie aus einer Studie mit Psychiatriepatienten hervorging, erfüllte ein größerer Teil von ihnen die Kriterien für eine PTBS, als die aufnehmenden Ärzte ursprünglich erkannt hatten. Traumapatienten können durch das Übersehen ihrer komplexen Problemlage daher im Lauf der Zeit auch mehrere verschiedene Diagnosen erhalten.[2] [6] Unbehandelte oder falsch behandelte Traumaschäden verschwinden jedoch nicht von selbst. Sie bleiben grundsätzlich bestehen, auch wenn sich die Symptome verändern oder teilweise kompensiert werden können. Ein weiterer, die Problematik verstärkender Faktor resultiert aus den ungünstigen Lebenssituationen, die für die Betroffenen durch ihre psychischen Probleme entstehen. Da das Verhalten der Betroffenen häufig ablehnende Reaktionen anderer Menschen auslöst, sind die sozialen Beziehungen und das Berufsleben nicht selten beeinträchtigt, was ihre psychischen Probleme wie in einem Teufelskreis verstärken und zu nachhaltigen sozialen und beruflichen Problemen führen kann. Gerade bei Kindern, die Opfer von Misshandlungen oder Missbrauch wurden, kann auch die schulische Entwicklung in hohem Maße gefährdet sein. Grundsätzlich scheinen sich die Folgen schwerer komplexer Traumata nie vollständig zurückzubilden, auch nicht durch therapeutische Behandlung. Nachwirkungen der Traumata können immer wieder in Erscheinung treten, speziell in neuen, belastenden Lebensabschnitten. Nichtsdestoweniger können die psychischen Probleme durch adäquate medikamentöse und psychotherapeutische Verfahren in den meisten Fällen deutlich gemildert werden.[4] [7]. Vom englischen National Intitute for Clinical Excellence (Nice) werden vor allem Paroxetin, Mirtazapin, Amitryptilin und Phenelzin empfohlen [8]. Die amerikanische FDA hat Sertralin und Paroxetin für diesen Zweck zugelassen. In Deutschland ist allein Paroxetin für diese Indikation zugelassen und in der Schweiz Sertralin und Paroxetin. Zusammenhänge mit anderen KrankheitsbildernDie Symptome der komplexen PTBS zeigen große Überschneidungen mit anderen Krankheitsbildern – insbesondere der Borderline-Persönlichkeitsstörung und dissoziativen Störungen – weswegen schon früh die Frage aufgeworfen wurde, ob diesen Krankheitsbildern nicht überwiegend eine komplexe PTBS zugrunde liegend könnte. Die bislang vorliegenden empirischen Befunde sind in dieser Hinsicht jedoch nicht eindeutig: Dissoziative Störungen sind in den allermeisten Fällen auf Traumata zurückführbar (sie können geradezu als „normaler“ Bewältigungsmodus angesehen werden). Dazu kommt aber, dass bei allen schweren Fällen von Borderline auch besonders ausgeprägte Dissoziative Symptome vorhanden sind. Die auch immer vorhandenen Triggererlebnisse sind ebenfalls nur durch Traumatisierungen erklärbar. Der allgemeine Konsens unter den meisten Psychologen ist, dass sich im Falle der Borderline-Störung trotz einiger dahingehender Bemühungen von Seiten der Traumaforschung bislang kein derartig enger und eindeutiger Zusammenhang nachweisen ließ. Einige Traumaforscher (u.a. Judith Herman, Michaela Huber) behaupten allerdings explizit das Gegenteil. Von ihnen wird gesagt, der eindeutige Zusammenhang sei schon mehrfach nachgewiesen. Nicht alle Betroffenen könnten sich an die ursächlichen Traumata erinnern, weil die schwersten Traumatisierungen oft in der frühen Kindheit vorkommen (in den ersten beiden Lebensjahren besteht die größte Empfindlichkeit für Traumatisierungen) und zudem besteht bei solchen Ereignissen ein völliger oder teilweiser Ausfall der Erinnerungsabspeicherung. Die mit der komplexen PTBS im Zusammenhang stehenden und auch bei der Mehrzahl der Borderline-Störungen zu findenden Formen der Traumatisierungen stellen allerdings fraglos ein massives Risiko für die weitere psychosoziale Entwicklung dar – unabhängig davon, welche Störungen in ihrem Gefolge entstehen. LiteraturFachartikel
Bücher
Quellen
Siehe auch
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