Meine Merkliste
my.bionity.com  
Login  

Industriemelanismus



   

Der Begriff Industriemelanismus entstand als Bezeichnung für eine besondere Form des Melanismus, nachdem sich beim Birkenspanner, einer Schmetterlingsart, Ende des 19. Jahrhunderts in englischen Industriegebieten ein drastischer Wandel des äußeren Erscheinungsbilds zugetragen hatte. Unter Melanismus versteht man eine besonders ausgeprägte Einlagerung von dunklen Pigmenten (speziell von Melanin) in der Haut.

Inhaltsverzeichnis

Der historische Hintergrund

Birkenspanner sind typischerweise hell gefärbt und daher (wenn sie auf der gleichfalls hellen Rinde von Birken sitzen) vom Untergrund selbst aus nächster Nähe kaum zu unterscheiden. Diese Tarnung – ein Schutz vor Fressfeinden – versagte kläglich, als durch die seinerzeit dramatische Luftverschmutzung durch Fabrikschornsteine die Birken zunehmend von Ruß dunkel gefärbt wurden. 1848 beobachtete man plötzlich in der Nähe von Manchester eine größere Anzahl dunkel gefärbter Exemplare. Bereits 1898 waren im Industriegebiet bei Manchester 98 Prozent aller Birkenspanner dunkel gefärbt. Auch mehrere Dutzend andere Schmetterlingsarten veränderten ihr äußeres Erscheinungsbild auf diese Weise. Seit den 1960er Jahren ging der Anteil der melanistischen Variante im Raum Liverpool von damals 90 Prozent auf inzwischen ca. 50 Prozent zurück.

Der im Vergleich zur Ausgangssituation im 19. Jahrhundert noch immer erhöhte Anteil dunkler Individuen zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird von Forschern darauf zurückgeführt, dass die Birken wegen der noch immer hohen Belastung der Luft mit Abgasen noch immer kaum von Flechten besiedelt sind und die hellen Individuen daher noch keine optimalen Lebensbedingungen vorfinden.

Der Industriemelanismus gilt somit als ein Paradebeispiel dafür, dass Umweltveränderungen den Verlauf der Stammesgeschichte innerhalb kürzester Zeitspannen stark beeinflussen können. Allerdings entstanden bei diesen Schmetterlingsarten keine neuen Merkmale; vielmehr änderte sich nur die Verbreitungshäufigkeit der zuvor bereits vorhandenen Merkmale.

Zweifel an der Deutung der Beobachtungen

Die meisten Lepidopterologen bezweifeln heute, dass das Vorkommen der schwarzen Form des Birkenspanners in erster Linie auf Umweltverschmutzung zurückgeführt werden kann. So wird der Birkenspanner - entgegen einer noch immer weit verbreiteten Auffassung - so gut wie nie auf der Rinde von Birken gefunden. Vielmehr versteckt er sich tagsüber unter Laub, Ästen und ähnlichem. Zudem können melanistische Exemplare des Spanners auch in Gegenden gefunden werden, wo es keine nennenswerte Luftverschmutzung gibt.

Die irrige Meinung, der Birkenspanner sitze tagsüber vorwiegend auf der Rinde, ist den Fotos in diversen Lehrbüchern der Ökologie und der Evolutionsforschung geschuldet, die weiße Exemplare auf dunkler Rinde und dunkle Exemplare auf heller Rinde zeigen. Diese Fotos zeigen jedoch keine frei lebenden Exemplare, sondern sie entstammen bestimmten Experimenten, die seit Anfang der 1950er-Jahre mehrfach wiederholt wurden. Erstmals publiziert wurden diese Experimente zum Industriemelanismus im Jahr 1955 durch Bernard Kettlewell, [1] einem Zoologen der Universität Oxford. Unter Fachkollegen stieß seine Studie auf Unglauben, weswegen er den Verhaltensforscher und erfahrenen Tierfotografen und -filmer Nikolaas Tinbergen bat, eine Wiederholung der Experimente zu dokumentieren. Daraufhin wurde 1958 von Tinbergen tatsächlich eine Filmdokumentation veröffentlicht, die überzeugend nachwies, dass helle Schmetterlinge auf dunkler Rinde häufiger von Vögeln entdeckt und verzehrt werden als dunkle Individuen. Erst Jahrzehnte später wurde erkannt, dass diese Experimente grob fehlerhaft waren und daher keinen Rückschluss auf die tatsächlichen Vorgänge zulassen, die zu einer Verschiebung des Verhältnisses von hellen zu dunklen Individuen führten: Die ökologischen Zusammenhänge (die Lebensgewohnheiten der Falter) waren verkannt und das Beuteverhalten der Vögel durch ein Überangebot an farblich hervorstechenden Faltern allererst verursacht worden. [2]

Inzwischen weisen vorläufige Daten aus Großbritannien darauf hin, dass die Art seit der Klimaerwärmung zunehmend wieder heller wird. Damit wäre der so genannte "Industriemelanismus" nichts als eine wetter- und klimabedingte Färbungsvariation, wie sie auch bei anderen Arten der Familie der Spanner auftritt.

Die Kontroversen um die These des Industriemelanismus beim Birkenspanner werden immer wieder von Kreationisten genutzt, um die Evolution in Frage zu stellen. Eine falsche Deutung der Ursachen für die Auftretenshäufigkeit von Farbvarianten beim Birkenspanner hat jedoch in diesem Zusammenhang keinerlei Beweiskraft, denn eine Veränderung von ökologischen Einflussgrößen (von so genannten Umweltfaktoren) wird ja auch von den Kritikern der Theorie vom Industriemelanismus in Rechnung gestellt.

Quellen

  1. Hery Bernard Davis Kettlewell: Selection experiments in industrial melanism in the Lepidoptera. Heredity Band 9, 1955, S. 323-342
  2. Judith Hooper: Of Moths and Men: An Evolutionary Tale: The Untold Story of Science and the Peppered Moth. London: Fourth Estate, 2002 (Nachdruck bei W. W. Norton & Company, 2003, ISBN 0393325253)

Siehe auch

Literatur

  • Klaus Lunau: Warnen, Tarnen, Täuschen. Mimikry und andere Überlebensstrategien in der Natur. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, ISBN 3-534-14633-6
  • Karl Cleve: Die Erforschung der Ursachen für das Auftreten melanistischer Schmetterlingsformen im Laufe der letzten hundert Jahre. Zeitschrift für angewandte Entomologie, Bd. 65 (1970), Heft 4, Verlag Paul Parey, Hamburg
 
Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Industriemelanismus aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.
Ihr Bowser ist nicht aktuell. Microsoft Internet Explorer 6.0 unterstützt einige Funktionen auf ie.DE nicht.