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Essentialismus



Der Essentialismus (von lat. essentia: Wesen, Washeit, Sosein), auch Wesenslehre, ist die Auffassung, dass es ein Wesen oder eine wahre Natur einer Sache gibt, das bestimmt, definiert, erklärt und begründet, was dieses der Art nach ist, und warum es sich notwendigerweise so verhält, wie es sich verhält. Das Wesen ist das, was bei jeglicher Veränderung einer Sache gleich bleibt: der Kern, die Identität, das „Wesenhafte“, das „Wesentliche“ bzw. die unterscheidenden Hauptmerkmale einer Gegebenheit, die unwandelbar (unrevidierbar) sind, der Existenz einer Sache vorausgehen und „älter“ und „reiner“ sind. In diesem Sinne kann es das Allgemeine, den Sinngehalt, die Gattung oder die Idee des betrachteten Gegenstands meinen, im Gegensatz zum Einzelnen, Individuellen und den zufälligen Änderungen unterworfenen Erscheinungen. Speziell kann das Wesen auch im Unterschied zum Schein das „wirkliche“, „eigentliche“, „wahre“ und „authentische“ Sein eines Seienden meinen; das eigenartige oder auszeichnende Sein, das Sosein im Gegensatz zum Dasein; die Essenz im Gegensatz zur Existenz. Das Allgemeine wird damit das Wahre, also das, was sein kann und was sein sollte, zum Maßstab von Kritik und ethischer Beurteilung. Das Wesen einer Art oder Gattung ist durch eine endliche Liste notwendiger Merkmale (Kriterien) festgelegt, die etwas erfüllen muss, um zu dieser dazuzugehören. Dem Essentialismus steht der Aktualismus gegenüber, nach dem sich alles Seiende in ständiger Veränderung befindet. Der Essentialismus ist gleichzeitig eine der Unterpositionen des Realismus, die im Universalienstreit dem Nominalismus gegenübersteht. Die Bezeichnung geht auf Pierre Duhem zurück. Das Wesen der Dinge erschließt sich der Auffassung vieler philosophischer Theorien nach nicht der sinnlichen Wahrnehmung, sondern nur dem theoretischen Denken; zuerst in dieser Weise deutlich formuliert von Platon in seiner Ideenlehre (siehe auch Wesensschau).

Inhaltsverzeichnis

In Philosophie und Wissenschaftstheorie

In der Philosophie wird der Essentialismus bis auf Platon und Aristoteles zurückgeführt. Die aristotelische Begriffsbildung wurde maßgeblich von Thomas von Aquin in die Theologie und Scholastik aufgenommen. In den Begriffen von Leibniz ausgedrückt besagt diese Lehre, dass es notwendige und kontingente Eigenschaften von Dingen gebe, und zwar unabhängig davon, wie wir die Dinge konzipieren oder beschreiben.[1]

Wegen des "aristotelischen Essentialismus" meinte Willard Van Orman Quine die quantifizierte Modallogik verwerfen zu müssen.[2] Er ließ indes dabei ungeklärt, welcher Position in dieser Frage Aristoteles tatsächlich zugeschrieben werden darf. Michael-Thomas Liske erörtert ausgehend von Texten des Aristoteles, inwieweit ein Art-Essentialismus zur Kennzeichnung von Individuen aufrechterhalten werden könne, und verteidigt gegenüber Quines Forderung nach einer ausschließlichen Extensionalitätsbetrachtung: Der Sinnunterschied zweier extensional gleichwertiger Spezifikationen kann wissenschaftlich bedeutsam sein, weil sie ein verschiedenes Erklärungspotenzial haben können.

Laut Karl R. Popper geht Essentialismus bzw. die "Wesenphilosophie" auf die Ansicht zurück, dass eine Definition richtig oder falsch sein kann, indem sie das "Wesen" eines Begriffes besser oder weniger gut wiedergibt.[3] Demgegenüber vertritt Popper, dass Definitionen prinzipiell willkürlich sind. Sie können demnach nur mehr oder minder zweckmäßig oder fruchtbar zur Entwicklung einer bestimmten Theorie sein und müssen immer von rechts nach links gelesen werden: Als Kurzbezeichnung für eine Reihe von strukturellen Eigenschaften.

Somit kann Essentialismus als eine Methodologie aufgefasst werden, die die Aufgabe von Wissenschaft in der Entdeckung des reinen Wissen sieht, d.h. der Beschreibung der wahren Natur der Dinge, ihrer verborgenen Realität oder Essenz. Besondere Kritikpunkte sind hierbei: die Koppelung mit einer Rechtfertigungsstrategie bzw. einer Letztbegründung, mit Teleologie, womit häufig eine Vermischung von Seinsaussagen und Sollaussagen (Werturteil) einher geht.

"Was ist ...?"-Fragen liegen meist essentialistische Prämissen wie folgt zugrunde:

  1. Es gibt eine natürliche Ordnung der Dinge, zumindest auf dem betreffenden Gebiet.
  2. Es gibt nur eine richtige Antwort, und diese ist ideal, endgültig, etwa durch Wesensschau erkennbar und gesicherter Ausgangspunkt jeder Begründung.
  3. Es gibt eine letzte Erklärung, und sie wird durch die sich selbst beschreibenden wesentlichen Eigenschaft geliefert.
  4. Einem bestimmten sprachlichen Ausdruck wird unabhängig von dem Problemkontext, in dem er verwendet wird, stets dieselbe Bedeutung zugesprochen.
  5. In der äußeren Form einer Sachaussage versteckt sich so oft ein Werturteil.

Wer sich dieser Ausdrucksweise bedient, ist rhetorisch im Vorteil, solange diese Prämissen undiskutiert bleiben. Der Essentialismus ist daher zumindest anfällig für Missbrauch, worauf die Ideologiekritik seit Theodor Geiger, Gunnar Myrdal und Hans Albert immer wieder aufmerksam gemacht hat.

Die Kontroverse zwischen Essentialismus und Nominalismus wird in der Philosophie unter dem Titel Universalienproblem geführt. Popper sah im Universalienproblem den Hauptpunkt darin, dass Universalien und Individualien bzw. Eigennamen logisch grundsätzlich getrennt sind.[4] Diese Debatte pflanzt sich fort auf dem Gebiet der Wissenschaftstheorie, hier vor allem um den Vorrang von Begriff oder Aussagen, sowie auf dem Gebiet der Definitionslehre. Sie widerspiegelt sich hier insbesondere im Streit um den Sinn und Unsinn einer Nominaldefinition gegenüber einer Realdefinition (Definition).

In der Ethik

In der Biologie

Essentialismus (=Typologie) bedeutet in der Biologie, dass die Art (ontologischen) Vorrang vor dem Individuum hat. So hat Aristoteles die Vorstellung vertreten, dass ein Huhn die materielle Ausprägung der Art (Wesen, Idee) des Huhns ist und die Entwicklung des Huhns durch die Entelechie der 'Huhnheit' bestimmt ist.

Hingegen ist in der modernen Biologie die Auffassung verbreitet, dass das eigentliche Objekt biologischer Forschung die Individuen sind; die Art wird pragmatisch definiert als die Gesamtheit der Individuen, die miteinander fruchtbare ('fertile') Nachkommen zeugen können. Der Artbegriff ist hier logisch dem Begriff des Individuums nachgelagert. So wird der evolutive Selektionsmechanismus auf der Ebene der Individuen angesetzt, nicht auf der Ebene der Arten. Es gibt sogar Ansätze[5], die die einzelnen Gene als die Einheiten des Selektionsprozesses ansehen.

In der Gesellschaft

Unter Essentialisierung wird die Einordnung von Personen, Vorgängen oder Dingen in eine als natürlich verstandene Kategorie gefasst, die dann qua Natur oder Wesen dieser Kategorie vermeintlich notwendigerweise über bestimmte Merkmale, Eigenschaften oder Verhaltensweisen verfügen sollen.

Als Musterfall einer essentialistischen Auffassung kann auf politischem Gebiet Johann Gottlieb Fichtes Deutschtums-Philosophie gelten. Die Stelle des Volkes, der Nation, der Sprache, der Kultur, der Religion kann in einer essentialistischen Theorie auch die Rasse oder irgendeine andere, durch möglichst sichtbare Merkmale sozial identifizierbare Kategorie einnehmen.

Hinzu zur Essentialismus-Kritik tritt neuerdings eine erweiterte kritische Sichtweise, welche argumentiert, auch Anti-Essentialismus oder Universalismus könne Einstellungen maskieren, die im Grunde Essentialismus im Hinblick auf die eigene Herkunftskultur seien. Was Europäer oder US-Amerikaner für universell gültige Kulturleistungen[6] hielten, wirke auf andere Gesellschaften nicht anders als wie ein uneingestandener Essentialismus.[7].

Psychologischer Essentialismus

Der Psychologische Essentialismus bevorzugt natürliche, d.h. auf biologische Ursprünge rückführbarer Kategorien. Er geht davon aus, dass Kategorien auf Basis der Essenz ihrer Mitglieder aufbauen. Der Begriff „Essenz“ steht hierbei für die natürliche Grundlage oder den Sinn eines Lebewesens, Gegenstandes oder Ereignisses. Die Essenz selbst muss nicht in jedem Fall bekannt sein – ausreichend ist die Kenntnis eines bestimmten „Essenz-Platzhalters“. Bei Nutzung eines solchen Platzhalters wird davon ausgegangen, dass beispielsweise äußerliche Ähnlichkeit auch eine natürliche Grundlage – die Essenz – hat.

Beeindruckend ist hierbei, dass bereits Kinder im Alter von vier Jahren einen deutlich nachweisbaren Sinn für die Erkennung der Essenz haben. So werden Amseln eher mit Flamingos in eine Kategorie eingeordnet als mit Fledermäusen – trotz tendentiell größerer Ähnlichkeit zu letzteren. Der Psychologische Essentialismus kann jedoch durch wissenschaftliches Denken überwunden werden. Dies ist hin und wieder nötig, da das Konstrukt Essenz-Platzhalter ziemlich fehleranfällig ist. In die Kategorie „Bäume“ fallen sowohl Ahorn als auch Pinie, eine Rose hingegen nicht. Phylogenetisch stehen sich Ahorn und Rose hingegen deutlich näher als Ahorn und Pinie.

Siehe auch

  • Essentialisierung
  • Strukturalismus
  • Integrale Tradition
  • Kulturessentialismus
  • Phänomenologie
  • Deutscher Idealismus

Im Gegensatz zu:

  • Konstruktivismus
  • Poststrukturalismus
  • Existenzialismus

Quellen

  1. Hägler, Rudolf-Peter: Kritik des neuen Essentialismus. Paderborn München Wien Zürich 1994, S.10
  2. Michael-Thomas Liske: Aristoteles und der aristotelische Essentialismus. Individuum, Art, Gattung. Freiburg, München 1985. S. 19; vgl. dazu Ulrich Nortmann: Modale Syllogismen, mögliche Welten, Essentialismus. Eine Analyse der aristotelischen Modallogik. ISBN 978-3-11-014660-8
  3. Karl Popper: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. hrg. von Troels Eggers Hansen, Tübingen 2. Aufl. 1994. ISBN 3-16-145774-9, S. 177
  4. Karl Popper: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. hrg. von Troels Eggers Hansen, Tübingen 2. Aufl. 1994. ISBN 3-16-145774-9, S. 245 ff.
  5. vgl. Richard Dawkins: Das egoistische Gen.
  6. "evolutionäre Universalien", wie Talcott Parsons sagte
  7. S. Sayyid: Anti-essentialism and Universalism. Innovation - The European Journal of Social Sciences, 11, 4, 1998, S. 377-390

Literatur

  • Kamp, Georg: Essentialismus, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 2. Aufl. [2005], S. 398 - 404 (mit 2,5 Spalten Literaturverzeichnis)
  • Herbert Marcuse: The Concept of Essence.. In: Negations. Essays in Critical Theory. Boston 1968 (zuerst: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. V, 1936)
  • Josef Seifert: Sein und Wesen. Winter, Heidelberg 1996, ISBN 3-8253-0367-5
  • Brody, Baruch A.: Identity and essence. Princeton Univ., Princeton, N.J. 1980, ISBN 0-691-07256-6
 
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