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Diabetes renalis




Klassifikation nach ICD-10
E74.8 Sonstige näher bezeichnete Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels
R81 Glukosurie
ICD-10 online (WHO-Version 2006)

Als Diabetes renalis wird eine Funktionsstörung der Niere bezeichnet, die durch eine dauerhafte Ausscheidung von Glukose im Urin (Glukosurie) bei normaler Glukosetoleranz und nicht erhöhtem Blutzuckerspiegel gekennzeichnet ist. Synonyme Namen sind Diabetes innocens, Diabetes innocuus, Nierendiabetes, Nierenharnruhr, Normoglykämische Glukosurie oder Primäre renale Glukosurie. Das Symptombild des Diabetes renalis wurde erstmals 1895 beschrieben. Der Schweizer Kinderarzt Guido Fanconi prägte 1931 die Bezeichnung Familiäre renale Glukosurie. Neben dem angeborenen Diabetes renalis gibt es darüber hinaus auch erworbene und vorübergehende Formen. Da diese Störung im Regelfall nahezu symptomlos und damit für die Patienten beschwerdefrei bleibt und keine Spätfolgen bekannt sind, ist eine Therapie im Regelfall nicht notwendig.

Inhaltsverzeichnis

Ursache

Die Blutglukose gelangt bei der Bildung des Harns in der Niere zunächst über die Glomeruli in den Primärharn. Aus diesem wird sie im Normalfall vollständig aktiv zurückresorbiert und dem Blutstrom wieder zugeführt. Die Reabsorption geschieht dabei in den proximalen Abschnitten der Nierentubuli. Eine Störung dieser Reabsorption der Glukose in den Nieren kann entweder autosomal unvollständig rezessiv vererbt werden und damit angeboren sein (familiäre Form des Diabetes renalis), oder sie beruht auf erworbenen Veränderungen der Nierenfunktion. Als physiologische Basis gibt es zwei Möglichkeiten, und zwar zum einen eine eingeschränkte Funktion der Glukosetransporter in der Niere mit einer verringerten Reabsorbtion für Glukose (verminderte maximale Glukosetransportkapazität, TmG) und zum anderen eine Verringerung der Nierenschwelle für Glukose mit einer gesteigerten Abgabe von Glukose in den Urin (normale maximale Glukosetransportkapazität, TmG)

Nach Reubi kann unterschieden werden zwischen einem Typ A, dem gleichzeitigen Vorliegen beider Störungen, und einem Typ B, dem alleinigen Vorliegen einer verringerten Nierenschwelle bei normaler Reabsorbtionsrate. Diese Unterscheidung wird jedoch von einigen Autoren in Frage gestellt. Als Typ 0 wurde eine bisher erst einmal beschriebene Form bezeichnet, die durch ein völliges Fehlen der Reabsorbtion gekennzeichnet ist[1]. Für die autosomal unvollständig rezessiv vererbte Form des Diabetes renalis ist eine Mutation des Gens für den Natrium-Glukose-Cotransporter SGLT2 in der Niere identifiziert worden[2]. Weitere Untersuchungen haben ergeben, dass das Ausmaß der Glukosurie wahrscheinlich von der Art und Lage der Mutation sowie vom Vorliegen der Mutation in homozygoter oder heterozygoter Form abhängt.

Bei der erworbenen Form liegt meist eine Absenkung der Nierenschwelle vor. Eine mögliche Ursache ist eine akute oder chronische Entzündung der Niere. Diese Form des Diabetes renalis kann darüber hinaus auch vorübergehend als Begleiterscheinung einer Schwangerschaft auftreten und wird dann auch als Schwangerschaftsglukosurie bezeichnet[3]. Als Ursache gilt hier ein schwangerschaftsbedingter Anstieg der Nebennierenhormone. Eine vorübergehende renale Glukosurie wurde darüber hinaus als mögliche Begleiterscheinung einer Erkrankung an Tetanus[4] sowie bei Nierentransplantationen[5] beschrieben. Auch das Vorliegen einer transienten Glukosurie bei Neugeborenen ist weit verbreitet.

Diagnose

Primäres diagnostisches Merkmal ist der Nachweis einer dauerhaften Glukoseausscheidung im Urin. Kennzeichnend für den Diabetes renalis ist dabei die Konstanz der Glukosurie, weitestgehend unabhängig von Nahrungsaufnahme, Gabe von Insulin oder oralen Antidiabetika oder körperlicher Belastung. Zur Differentialdiagnose (Abgrenzung) gegenüber einem Diabetes mellitus, bei dem eine Glukosurie ebenfalls als Symptom auftreten kann, dient ein Glukosetoleranztest, der beim Vorliegen eines Diabetes renalis normal ausfällt[6]. Auch eine Familienanamnese kann bei der Diagnose hilfreich sein. Zur Abgrenzung gegenüber anderen Störungen der Nierenfunktion ist die Bestimmung der Ausscheidungrate von anderen Substanzen, die an den proximalen Tubuli reabsorbiert werden, möglich.

Weitere Erkrankungen oder Zustände, bei denen eine Glukosurie vorübergehend oder dauerhaft als Symptom auftreten kann, sind beispielsweise Akromegalie, Morbus Cushing, Hyperthyreose, Phäochromozytom, Tumoren der Alpha-Zellen der Langerhansschen Inseln, Herzinfarkt, Pankreatitis, Lungenentzündung, Bluthochdruck, Leberzirrhose, Morbus Wilson, Erkrankungen beziehungsweise Verletzungen des zentralen Nervensystems, Fanconi-Syndrom, diverse Nephropathien, Vergiftungen, länger anhaltende Fastenzustände sowie akuter oder chronischer Sauerstoffmangel[6]. Auch hier ist zum spezifischen Nachweis eines möglichen Diabetes renalis eine entsprechende Differentialdiagnose notwendig.

Der ICD-10-Code für den Diabetes renalis lautet E74.8, zusammen mit Essentieller Pentosurie, Oxalose und Oxalurie als „Sonstige näher bezeichnete Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels“. Der Code für eine Glukosurie unklarer Ursache ist R81.

Häufigkeit

Zur Häufigkeit der familiären Form des Diabetes renalis gibt es keine verlässlichen Angaben. Horst Bibergeil gibt in einer älteren Studie eine Schätzung von 0,3 Prozent an[6]. Vorrangig betroffen ist die Altersgruppe von 18 bis 49 Jahren. Dies ist jedoch möglicherweise, aufgrund des meist symptomlosen Verlaufs, auch auf eine späte Diagnose im Rahmen einer Routineuntersuchung zurückzuführen. Männer sind häufiger betroffen als Frauen.

Symptome und Therapie

Beim alleinigen Vorliegen eines Diabetes renalis bestehen im Normalfall keine klinisch relevanten Symptome, so daß eine spezifische Therapie meist nicht notwendig ist. Das Auftreten einer erhöhten Urinausscheidung (Polyurie) und eines gesteigerten Durst- und Hungergefühls (Polydipsie und Polyphagie) ist möglich. Ein Diabetes renalis kann, meist bei körperlicher Belastung, aufgrund der erhöhten Glukoseausscheidung gelegentlich auch einen verringerten Blutzuckerspiegel bewirken und somit vorübergehend Symptome einer milden Unterzuckerung (Hypoglykämie) auslösen. Etwa zehn bis zwölf Prozent der Betroffenen leiden gelegentlich unter Atemnot (Dyspnoe), Schwäche, Nervosität, Müdigkeit oder einem Engegefühl im Brustkorb (Stenokardie).

Eine kausale (ursächliche) Behandlung ist ebenso wenig verfügbar wie eine symptomatische Behandlung, die auf das Leitsymptom der erhöhten Urinausscheidung ausgerichtet ist. Therapeutische Maßnahmen beschränken sich deshalb auf die genannten Sekundärsymptome wie beispielsweise eine Unterzuckerung oder eine Atemnot in Situationen, in denen sie ein behandlungsbedüftiges Ausmaß erreichen.

Prognose

Für den Diabetes renalis sind keine Langzeitfolgen bekannt, so daß im allgemeinen von einem benignen (milden) Verlauf ohne eine fortschreitende Verschlechterung (Progredienz) ausgegangen wird. Die Höhe der Glukosurie kann im Laufe des Lebens sogar abnehmen, da es zu einem auch bei gesunden Menschen auftretenden Anstieg der Nierenschwelle kommen kann. Beim Vorliegen eines milden Diabetes renalis ohne das Auftreten von weiteren Symptomen wie Polyurie, Polydypsie, Polyphagie und Hypoglykämie wird aus diesen Gründen eine Relevanz als Krankheit teilweise in Frage gestellt. Ein Übergang eines Diabetes renalis in einen Diabetes mellitus ist in der Literatur mehrfach in Form von Fallbeschreibungen dokumentiert. Ob allerdings das Vorliegen eines Diabetes renalis generell mit einem erhöhten Risiko verbunden ist, später an einem Diabetes mellitus zu erkranken, ist nicht gesichert. Diesbezügliche Langzeit-Followup-Studien erbrachten keine entsprechenden Hinweise[7].

Quellen

  1. S. Scholl-Bürgi, R. Santer, J.H.H. Ehrich: Long-term outcome of renal glucosuria type 0: the original patient and his natural history. In: Nephrology Dialysis Transplantation. 19(9)/2004. Oxford Journals/ Oxford University Press, S. 2394-2396, ISSN 0931-0509
  2. L.P. van den Heuvel, K. Assink, M. Willemsen, L. Monnens: Autosomal recessive renal glucosuria attributable to a mutation in the sodium glucose cotransporter (SGLT2). In: Human Genetics. 111(6)/2002. Springer-Verlag GmbH, S. 544-547, ISSN 0340-6717
  3. W.W. Chen, L. Sese, P. Tantakasen, V. Tricomi: Pregnancy associated with renal glucosuria. In: Obstetrics & Gynecology. 47/1976. Lippincott, Williams & Wilkins, S. 37-40, ISSN 0029-7844
  4. G.-R. Rezaiana, P. Khajehdehia, S. Beheshtib: Transient Renal Glucosuria in Patients with Tetanus. In: Nephron. 80/1998. S. Karger AG, S. 292-295, ISSN 0028–2766
  5. A. Secchi, A. Hadj-Aissa, N. Pozet, J.L. Touraine, G. Pozza, J.M. Dubernard, J. Traeger: Renal glucose transport after kidney transplantation. In: European Journal of Clinical Investigation. 14(2)/1984. Blackwell Publishing, S. 142-145, ISSN 0014-2972
  6. a b c Dietrich Michaelis: Differentialdiagnose des Diabetes mellitus. Abschnitt 7.3.1: Diabetes renalis (familiäre Glukosurie). (S. 193-194) und Abschnitt 7.3.2: Begleitglukosurien bei endokrinen und organischen Erkrankungen. (S. 194-195). In: Horst Bibergeil (Hrsg.): Diabetes mellitus. Ein Nachschlagewerk für die diabetologische Praxis. VEB Gustav Fischer Verlag, Jena 1989, ISBN 3-33-400087-7
  7. Diverse Autoren: Ten-year follow-up report on Birmingham Diabetes Survey of 1961. Report by the Birmingham Diabetes Survey Working Party. In: British Medical Journal. Jul 3/1976. BMJ Publishing Group Ltd., S. 35-37, ISSN 0959-8146

Literatur

  • O. Gotzsche: Renal glucosuria and aminoaciduria. In: Acta Medica Scandinavica. 202(1-2)/1977. Almqvist & Wiksell, S. 65-7, ISSN 0001-6101
  • J. Brodehl, B.S. Oemar, P.F. Hoyer: Renal glucosuria. In: Pediatric Nephrology. 1(3)/1987. Springer-Verlag GmbH, S. 502-508, ISSN 0931-041X
  • M. Serrano-Rios: Renal diabetes (primary renal glycosuria): a short overview. In: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. 93/1987. Bergmann München, S. 512-517, ISSN 0070-4067
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