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DegenerationDegeneration (v. lat.: de- ent-; genus Art, Geschlecht) bedeutet "Entartung". Die Vorstellung von einer Degeneration des Menschen oder der menschlichen Zivilisation hatte zwischen den 1850er bis zu den 1950er Jahren großen Einfluss auf die Wissenschaft, die Kunst und die Politik. Eng verbunden mit diesen Vorstellungen eines allgemeinen Verfalls sind zu dieser Zeit einerseits die Eugenik und andererseits Rassentheorien. Im heutigen Bewusstsein wird der Begriff einerseits mit Zwangssterilisationen, die im Nationalsozialismus in der Aktion T4 ihren Höhepunkt hatte, und einer Kritik der Gesellschaft am Fin de siècle andererseits verbunden. Weiteres empfehlenswertes Fachwissen
Degeneration als medizinischer BegriffIm medizinischen Sprachgebrauch versteht man unter Degeneration die Rückbildung und den Verfall von Zellen, Geweben oder Organen:
BegriffsgeschichteUrsprünge des Begriffs "Entartung"Das Entartungsproblem ist sehr alt. Schon bei Aristoteles taucht die Vorstellung auf, Selbstmord, Verbrechen und Laster aller Art ließen ein Volk entarten und untergehen. Und schon bei Rousseau finden sich einige Elemente der späteren Verwendungsweise des Terminus in der Wissenschaft. Hier wird unter »Entartung« eine (negative) Abweichung vom Naturzustand verstanden. Die Zivilisation bewirkt durch zu verfeinerte Ernährung der Reichen bzw. zu schlechte Ernährung der Armen sowie durch geistige Überanstrengung die beständige Schwächung der ursprünglich robusten menschlichen Natur. 19. JahrhundertGesellschaftlicher KontextDie industrielle Revolution und der durch sie bedingte soziale und ökonomische Wandel vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten zu immensen Umwälzungen. Man hat verschiedentlich von einem regelrechten Kulturschock gesprochen. Vor allem über die Folgen der Urbanisierung machte man sich große Sorgen. Der vermeintlich damit einhergehende, zunehmende Alkoholismus und die Auswirkungen der Syphilis wurden genauso als Gefahr ausgemacht wie die angenommene allgemeine Überforderung durch Reizüberflutung sowie Homosexualität, Verbrechen, Suizid und der generelle Niedergang der Sitten. Aber solche Befürchtungen waren an sich nichts Neues, allerdings verband man sie nun mit eugenischer, rassischer und medizinischer Forschung. Besonders in der Psychiatrie wurde über die vermeintliche Verwandtschaft dieser Erscheinungen mit den Geisteskrankheiten diskutiert. MorelDer französischer Psychiater Benedict Augustin Morel gab Erklärungen für somatische und psychologische Anomalien oder Pathologien, die er als "Degenerationen" bezeichnete. Einflussreich wurde sein Buch „Traité des Dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l`espéce humaine“. Die Erweiterung auf pathologische Phänomene gibt dem Begriff der Entartung bzw. Degeneration eine negative Konnotation. Zudem ist bei ihm ausdrücklich von einem sich verstärkenden Prozess die Rede. Mit seiner Vorstellung der Entartung als einer von Generation zu Generation fortschreitenden Verschlechterung der Art, die durch erbliche Einflüsse bedingt ist, beeinflusste er in einem hohen Maße das Denken der Zeit im Allgemeinen und das der heranwachsenden Psychiatergeneration im Besonderen. Morels Degenerationsbegriff basiert einerseits auf einer Mischung aus religiösen Vorstellungen und ethnologisch-anthropologischem Gedankengut. Die Menschheit entwickle sich fort von einem »type primitif« bzw. »type normal«, also einem Ursprungsmenschen, der mit Adam als identisch angesehen werden kann. Andererseits wurde Morels Theorie möglich durch Ideen der Zeit vor Darwin, besonders denen Jean-Baptiste Lamarcks. Dieser behauptete, bestimmte angenommene Charakteristika (Drogenkonsum, Perversionen, etc.) könnten vererbt werden. Dies ist freilich, wie man heute weiß, nicht wahr. Praktisch alles wurde als vererbbar gesehen, so auch Krätze oder Aussatz. Ein sehr verschwommenes Konzept der »erblichen Prädisposition« erlaubte es Morel, die verschiedenartigsten Krankheiten in einer Generation auf ganz andersgeartete in der vorhergehenden Generation zurückzuführen. Besonders Morels Degenerationsschema hatte auf die Psychiatrie der zweiten Jahrhunderthälfte eine tiefe Wirkung. Demnach sollen Pathologien von Generation zu Generation zunehmen:
Die letzte Stufe der Entartung sei immer die Sterilität. Den Entarteten erkenne man an den Stigmata der Entartung:
Dabei handelt es sich offensichtlich um eine Theorie, die „jeder Tertianer (...) an Hand der historischen Genealogien hätte Lügen strafen können“ (Eugen Bleuler). Erst zu Beginn des zweiten Jahrzehnts im 20. Jahrhundert begann diese Annahme aufgrund der Unhaltbarkeit vor allem der Vererbungsthesen (durch die Wiederentdeckung und rasche Ausbreitung der Mendel'schen Regeln ab 1900) einem Ende zuzugehen. MagnanEine Veränderung des Entartungsbegriffs trat mit dem Darwinismus auf. Valentin Magnan, der zweite große französische Entartungstheoretiker, verwarf den religiösen Degenerationsgedanken, der eine Entartung seit dem Sündenfall annahm, und verband die Regression im Sinne Darwins mit dem Entartungsgedanken. Ein vollendeter Menschentyp könne niemals am Anfang der menschlichen Entwicklung stehen, sondern nur an ihrem Ende. Er sieht im Evolutionsweg des Menschen bestimmte immanente Störungen angelegt, die seine Entwicklung nicht nur hemmen, sondern die Bewegungsrichtung zum Untergang hin verändern können. Die wichtigste Neuerung ist der Instabile oder »dégénéré supérieur«, dessen wichtigstes Merkmal die Disharmonie ist. Er trägt dieselben Merkmale wie die normalen Entarteten, ist aber intelligent. Er ist gekennzeichnet durch den
LombrosoDer italienische Begründer der Kriminalanthropologie Cesare Lombroso, dem Nordau später sein Buch "Entartung" widmete, legte mit seinen Arbeiten ("Der Verbrecher", "Genie und Irrsinn" und "Entartung und Genie") zum ersten eine Verbindung von Entartung und einer kriminellen Disposition und der Entartung und dem Genie andererseits. Der geborene Kriminelle nach Lombroso leidet unter einem Rückschritt zu einem priminativerem Gehirntyp, was sich auf sein Verhalten auswirkt. Lombroso wollte die kriminelle Disposition des Menschen anhand äußerlichen Anzeichen wie der Kopfform feststellen. Deshalb wurde er teilweise als der Prototyp des Pseudo-Wissenschaftlers par excellence angesehen. Lombroso versuchte seine Studien durch Abmessungen des Menschen und statistische Methoden sowie soziale und wirtschaftliche Daten zu untermauern. Etwa ein Drittel der Kriminellen seien geborene Kriminelle. Hippolyte Taine schrieb an Lombroso, dieser habe die Menschen als schmierige, wilde Orang-Utans mit menschlichem Gesicht gezeigt, die nicht anders handeln könnten, als sie es tun. Wenn diese vergewaltigten, stehlen und töteten, täten sie es wegen ihrer Natur und ihrer Vergangenheit. Dies sei ein Grund mehr, diese, sobald man Sicherheit sagen könne, dass diese Orang-Utans sind und bleiben werden, zu vernichten. Deshalb sei auch die Todesstrafe zu befürworten. Lombroso veröffentlichte diese Einschätzung später im Vorwort seines Buches "L'Homme criminel", sprach sich aber für eine menschliche Behandlung der Kriminellen aus und sprach sich für Begrenzungen der Todesstrafe aus. Lombroso begann auch Kunst und schriftliche Erzeugnisse von "Delinquenten" zu sammeln und in seinem Museum auszustellen. In den schönen Künsten wollte er die krankhafen Symptome übertriebener Genauigkeit im Detail, den Missbrauch von Symbolen, Beschriftungen und Accessoires, die Bevorzugung einer einzelnen Farbe und das ungezügelte Streben nach Neuem erkennen. Krafft-EbingIn Deutschland wurden bedeutende Psychiater wie Wilhelm Griesinger und Richard von Krafft-Ebing ergebene Anhänger Morels, die auch die deutsche Psychiatrie für Jahrzehnte unter seinem Einfluss stehen ließen. Krafft-Ebing entwickelte die Idee von Psychoneurosen, die er als Übergangszustand zur Entartung ansah. Er ist es auch, der eine Vielzahl von sexuellen Normabweichungen als Entartungsphänomene einordnet. Er war der Ansicht, die moderne Zivilisation stelle enorme Anforderungen an das Nervensystem und verursache damit "Trieb-Fehlfunktionen". Die Prädisposition zu Nervenkrankheiten (Neurasthenie) lasse sich zwar vererben, nicht aber die Nervenkrankheiten selbst. Die Erklärung von Pathologien durch erbliche Degeneration geht nicht nur bei Krafft-Ebbing, sondern auch anderen Größen der Psychiatrie im Deutschland des 19. Jh. (etwa Ernil Kraepelin) mit antisemitischen rassistischen Vorstellungen einher: besonders Juden seien als Rasse erblich degeneriert und in größerem Maße zu Schwachsinn disponiert. So schreibt etwa Theodor Kirchhof in seinem Lehrbuch für Medizinstudenten von 1893: "Perhaps the Jews exhibit a comparatively greater predisposition to insanity, but this may be explained by another peculiarity apart from race, viz., the fact that the Jews intermarry very often in close family circles, the crossing is insufficient, and heredity thus gives rise, by inbreeding, to a rapidly increasing predisposition to insanity."[1] Max NordauMax Nordaus Schrift „Entartung“ ist eine polemische Abrechnung mit den Hauptströmungen der zeitgenössischen Kunst auf dem Standpunkt einer krankhaften Fehlentwicklung, in der „alle Erscheinungen der modernen Kunst, die ihm persönlich unsympathisch waren, als Symptome der Entartung und zwar einer rein ärztlich verstandenen Entartung gebrandmarkt wurden.“ (Oswald Bumke) Nordau meinte sogar, ganz neue Geisteskrankheiten seien durch die moderne Zivilisation entstanden.
Am Beispiel Max Nordaus wird deutlich, dass der Mythos einer Degeneration und Neigung zum Wahnsinn von Juden zu Ende des 20. Jahrhundert offenbar so allgemeine Geltung hatte, dass auch jüdische Autoren selbst von der Realität dieser Fiktion überzeugt wurden. Nordau sieht allerdings, die Ursache dafür in der erzwungenen Isolation (statt selbstgewählter Eigenart der Lebensführung, wie Kirchhof und andere unterstellen) von Juden. Er spricht sich für ein "Muskeljudentum" aus, um die vermeintliche körperliche und geistige Degenartion zu überwinden. Zeit des NationalsozialismusZentrale Verwendung kam dem Begriff Entartung innerhalb der Ideologie der Nationalsozialisten im Dritten Reich zu. Sie übernahmen den Begriff und die entsprechenden kruden Vererbungslehren. Entartung diente insbesondere als Vorwand, die Sterilisation und Ermordung Geisteskranker, Behinderter und anderer Menschengruppen zu rechtfertigen. Die Verquickung mit antisemitischer Propaganda nimmt hier nochmals zu. Außerdem verwendeten die NS-Machthaber den Begriff Entartung für Formen von Kunst, die nicht ihrem ästhetischen Ideal und ideologischen Weltbild entsprachen (siehe Entartete Kunst und Entartete Musik). Kritik an derartigen Entartungs-TheorienSpätestens seit den 1920er Jahren war wissenschaftlich erwiesen, dass solch weitreichende Vererbungsthesen, wie sie bei Morel und seinen Nachfolgern zugrunde liegen, haltlos sind. Derartige Ansichten wurden aber schon zwei Jahre nach Erscheinen des Buchs von Nordau, durch den Psychiater William Hirsch kritisiert und besonders George Bernard Shaws Kritik[2] macht deutlich, dass auch Nordau mit seinen Ansichten keinesfalls unumstritten war. Oswald BumkeIn seiner Schrift "Über nervöse Entartung" von 1912 kritisierte Oswald Bumke die bisherige Entartungsforschung. Die Hauptpunkte seiner Kritik sind die Vererbung erworbener Krankheiten, die Vorstellungen der Übertragung von Geisteskrankheiten und der angeblich negative Einfluss der modernen Kultur auf die Selektion. Vererbung erworbener KrankheitenDas ganze Entartungsdogma steht und fällt mit der Annahme, dass »erworbene« pathologische Eigenschaften auf die Nachkommenschaft übertragen werden oder doch wenigstens übertragen werden können. Bumke kritisiert die bisherige Forschung an Meerschweinchen. Diese wurde durch operative Eingriffe epileptisch gemacht, woraufhin einige(!) ihrer Nachkommen ebenfalls epileptisch waren. Wenn durch Operationen krank gemachte Tiere kranke Nachkommen erzeugten, so liege keine Vererbung sondern eine Keimschädigung vor. Bumke versucht seine These damit zu untermauern, dass seit Jahrtausenden rituelle Beschneidungen vorgenommen wurden, oder die Füße der Chinesinnen verstümmelt werden. Eine erbliche Übertragung derartiger Veränderungen sei jedoch niemals beobachtet worden. Noch weniger möglich sei eine Vererbung der Nervenkrankheiten. Übertragung von GeisteskrankheitenGanz allgemein kritisiert Bumke die Grundlagen der psychiatrischen Hereditätsforschung. Der Versuch sei absurd, „alles, was an pathologischen Zügen in der Aszendenz eines Menschen nachweisbar ist, zusammenaddieren und nun in einem psychiatrischen Kurszettel die Gesamtbelastung in Prozentzahlen darstellen zu wollen“. Zwischen vier und neunzig Prozent aller Geisteskrankheiten würden als erblich belastet angesehen wurden – je nachdem wie weit man den Begriff auslegte. Ein weiterer Angriffspunkt seiner Kritik sind die »Stigmata degenerationis«. Diese spielen in Bumkes Zeiten unter anderem in den Arbeiten Näckes noch eine Rolle. („Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos?“) Bumke meint, die meisten der sogenannten »Entartungszeichen« seien "nichts als gewöhnliche Varietäten, die gegen die geistige Gesundheit des damit behafteten selbst dann nichts beweisen würden, wenn sie das Gehirn selbst beträfen." Bumke kommt auch zu dem Schluss, dass sich Geisteskrankheiten nicht dominant vererben. Die Aussichten »durchzuschlagen«, seien für pathologische Qualitäten nicht größer als für normale (wie z.B. die Augenfarbe). Die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung bestünde nur für den, bei dessen Entstehung von beiden Eltern zwei gleichgerichtete pathologische Vererbungstendenzen zusammentreffen. Einfluss der Zivilisation auf die SelektionVorstellungen einer negativen Selektion durch die moderne Kultur waren weit verbreitet, schlechtes »Genmaterial«, so glaubte man, werde bevorzugt. So schreibt Nietzsche, „daß die Civilisation den physiologischen Niedergang einer Rasse nach sich zieht.“ Der Vorwurf der Panmixie wird gegenüber der Zivilisation erhoben. Weismann schreibt:
Dieselben Vorwürfe wurden gegenüber Kurzsichtigkeit, geringer Körperkraft oder auch der Unfähigkeit zu Stillen erhoben. Verstärkt würde diese Tendenz noch durch die moderne Hygiene. So sei auch die Säuglingspflege ein Faktor der Gefährdung der „Güte unserer Rasse“ (Schallmeyer). Die Kritik Bumkes hierzu setzt auf drei Ebenen an. Die oberste Ebene bezieht sich auf die Wirksamkeit der Selektion. Deren Wirkung sei ganz einfach generell beschränkt. Außerdem bezweifelt er, dass die Kurzsichtigkeit oder die Unfähigkeit zu Stillen häufiger vererbt wird. Weiterhin registriert er, es sei das Grundprinzip des Entwicklungsgedankens, dass die Eigenschaften herausgezüchtet werden, die für den Bestand der Art vorteilhaft sind. Es sei eine triviale Wahrheit, dass die Entwicklung der Gehirnleistung bei der Evolution des Menschen ausschlaggebend ist. Insofern sei die Idee, eine »zu hoch« entwickelte Intelligenz wäre unnatürlich und gefährlich und die Vorstufe der Entartung (...), keineswegs so selbstverständlich, wie es vielen erscheint. Dasselbe gelte für die Hygiene. Infektionskrankheiten wirkten nicht „reinigend“ auf eine "Rasse". Hygiene verhindere das Krankwerden von Gesunden und nicht das »Ausmerzen« von Kranken. Zu der Behauptung, geistig Behinderte könnten sich wegen des Überlebens in Irrenanstalten fortpflanzen, meinte er, das Gegenteil träfe zu. Die meisten Anstaltsinsassen hätten vor 100 Jahren in Freiheit gelebt und hätten dort Kinder gezeugt. Es sei zudem sehr fraglich, ob dieser Zustand ein gar so großes Unglück gewesen sei. Er sieht in den Forderungen nach Kastration dieser Behinderten die Gefahr, dass „der Kreis der als bedenklich geltenden Individuen immer weiter gezogen [wird und] (...) daß demnächst ähnliche Wünsche auch für die Behandlung nachweislich (sic!) oder angeblich minderwertiger Rassen erhoben werden könnten.“ Ein Satz der heute wie eine Prophezeiung anmutet.
Literatur
Quellen
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Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Degeneration aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar. |