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Alfred Russel WallaceAlfred Russel Wallace (* 8. Januar 1823 in Usk, Monmouthshire; † 7. November 1913 in Broadstone, Dorset) war Naturforscher, Philosoph, Sozialist und Aktivist der britischen und irischen Landreformbewegung. Sein offizielles botanisches Autorenkürzel lautet „Wallace“. Unabhängig von Charles Darwin formulierte er die Evolutionstheorie. Er widersprach eugenischen Ideen und entwarf eine Utopie eines gerechten demokratischen Sozialstaates nach evolutionären Prinzipien. Wallace war bedeutender Wegbereiter der Biogeographie und Ökologie. Von 1848 bis 1852 bereiste er das Amazonasgebiet. Von 1854 bis 1860 forschte er im Malayischen Archipel, von wo aus er nicht weniger als 125.660 gesammelte und präparierte Exemplare gesammelter Arten nach England schickte. Die Wallace-Linie im Malayischen Archipel trägt seinen Namen. Weiteres empfehlenswertes FachwissenLeben und Reisen
Der junge Wallace: Autodidakt, Landvermesser und JuniorarchitektAlfreds Vater, Thomas Vere Wallace, ein studierter Jurist und bis zur Heirat mit Mary Anne Greenell ein Müßiggänger, publizierte ein aufwändig gestaltetes Literatur- und Kunstmagazin. Aufgrund des geringen kommerziellen Erfolges wechselte die Familie mehrmals den Wohnort, zuletzt nach Usk, Monmouthshire.[1] In Usk wurde Alfred Russel Wallace am 8. Januar 1823 als achtes von insgesamt neun Kindern (5 Schwestern, 3 Brüder) geboren. 1828 zog die Familie nach Hertford. In den Jahren darauf verlor der Vater einen Großteil des Vermögens als er es einem „Freund“ anvertraute, der es verspekulierte. Alfred besuchte zu dieser Zeit die Hertford Grammar School, wo er Nachhilfe in Lesen, Arithmetik und Schreiben gab. Sein Vater arbeitete inzwischen in der örtlichen Bibliothek und war Mitglied eines Buchclubs. So war die Familie immer mit Büchern versorgt. Alfred las vor allem Reiseerzählungen, aber auch Comics und Lyrik.[2] Ende 1836, im Alter von 13 Jahren, verließ Wallace die Schule und zog nach London zu seinem Bruder John. Geld verdiente er zeitweise in einem Bauunternehmen. Die Brüder verbrachten ihre Abende oft in der Hall of Science, einer Art Intellektuellenclub, der vor allem von Arbeitern, frühen Sozialisten und Anhängern von Robert Owen besucht wurde. In dieser Zeit las er Age of Reason von Thomas Paine. Im selben Jahr noch zog er zu seinem Bruder William nach Bedfordshire, der ein Landvermessungsbüro betrieb. Alfred arbeitete bis 1843 mit William zusammen (abgesehen von der kurzen Zeit einer Uhrmacherlehre, die er bald abbrach). Im April 1843 starb der Vater.[3] Weil die Landvermessungsgeschäfte nicht gut liefen, wurde Wallace Lehrer für „junior classes“ in Leicester, wo er 1844 lebte und seinen späteren Reisebegleiter Henry Walter Bates, einen Schmetterlings- und Käfersammler, kennenlernte. Wallace ließ sich begeistern und begann ebenfalls mit dem Sammeln. In der Bibliothek von Leicester las er die Arbeiten von Alexander von Humboldt und Thomas Robert Malthus.[4] 1846 starb sein Bruder William. Zusammen mit John arbeitete er noch einmal kurz als Landvermesser in Neath. Dann folgte ein Architekturprojekt: Der Entwurf des Neath Mechanics Institute & Library.[5] Der reisende Naturforscher, Biologe und BiogeographVermutlich zwischen 1842 und 1846 las Wallace die Reiseberichte von Humboldt und Charles Darwin. Nach der Lektüre von W.H. Edward's A Voyage up the Amazon beschlossen Wallace und Bates 1847 nach Pará (heute Belém) in Südamerika zu reisen. Zuvor hatten sie sich beim Verantwortlichen der Schmetterlingssammlung des British Museum vergewissert, dass es dort noch viele unentdeckte Arten geben müsse und dass die Reisekosten aus dem Verkauf doppelt gesammelter Exemplare beglichen werden könnten.[6] Südamerika1848 querten sie den Atlantik auf der Barke Mischief. Vier Jahre lang sammelten Wallace und Bates am Amazonas und am Rio Negro, bei Barra, Sao Joaquin und Vaupes. Meist gingen sie getrennte Wege. Wallace wurde zeitweise von seinem Bruder Herbert begleitet, bis dieser Ende Mai 1851 an Gelbfieber starb. Auf der Rückreise nach England brach auf dem kautschukbeladenen Schiff Helen Feuer aus. Wallace verlor seine Sammlung. Nur wenige Zeichnungen konnte er ins Beiboot retten. Zehn Tage später nahm sie die Jordeson auf. Das Material reichte nur für einen kurzen Reisebericht: die Narrative of Travels on Amazon and Rio Negro, wovon 750 Exemplare gedruckt wurden. Immerhin brachte dieser ihm Aufmerksamkeit und Kontakte ein: So lernte Wallace nach seiner Rückkehr in London Thomas Henry Huxley kennen und in der Insektensammlung des Natural History Museum begegnete er Charles Darwin. Nur aufgrund des Engagements ihres Agenten, der ohne das Wissen der beiden Naturforscher die Sammlung über 200 ₤ versichert hatte, entgingen Wallace und Bates einem finanziellen Desaster. Wallace schätzte später die Verluste auf etwa 500 ₤.[7] Der Malaiische ArchipelWährend der Besuche in den Vogel- und Insektensammlungen des British Museum kam Wallace zu der Überzeugung, dass die Inselgruppen des Malaiischen Archipels, die für eine unglaublich reiche Artenvielfalt berüchtigt waren, wohl das lohnendste Ziel für Sammler und Naturforscher sein müssten.[8] Mit Hilfe des Präsidenten der Royal Geographical Society, Roderick Murchison, erhielt er ein Ticket nach Singapur Anfang 1854. Acht Jahre verbrachte er im Malaiischen Archipel. Nach Singapur bereiste er Malakka, Borneo, Java, Sumatra, Bali, Lombok, Timor und Celebes, die Molukken und Papua-Neuguinea. Er katalogisierte 125.660 Pflanzen- und Tier-Exemplare und sandte diese nach England.[9] Insbesondere beschäftige er sich auch mit der Verbreitung und Biologie der Paradiesvögel. Nicht nur die Bedingungen seiner Sammelexkursionen waren beschwerlich, auch die erste Aufarbeitung vor Ort erforderte große Geduld [auf Borneo]:
Die Sarawak-PublikationNachdem Wallace einige Zeit auf der malayischen Halbinsel verbracht hatte, reiste er nach Sarawak auf Borneo, wo er über ein Jahr forschte und Orang-Utans beobachtete. Hier verfasste er im Februar 1855 auch seine erste bedeutende wissenschaftliche Arbeit, die später als das „Sarawak-Paper“ bekannt werden sollte — der vollständige Titel lautet: On the Law Which Has Regulated the Introduction of New Species.[11] InhaltAus den allgemein anerkannten geologischen Beobachtungen von Charles Lyell, die dieser im Buch Principles of Geology formuliert hatte, streitet Wallace nun für das Prinzip der langsamen, kontinuierlichen und graduellen Entwicklung der Arten:
So selbstverständlich dieser Satz heute klingt, so revolutionär war 1855 die Idee einer kontinuierlichen, graduellen Evolution des Lebens: Da alle Arten zusammenhängen und jede Art aus einer nahe verwandten, ähnlichen Art entstanden sein muss, ist auch die Entstehungsgeschichte des Lebens eine Folge von graduellen, kontinuierlichen Entwicklungen. In den Erläuterungen beschrieb er das Klassifizierungssystem der Arten bereits als Baum, dessen Blätter, Äste, Verzweigungen und Stamm die (möglicherweise zum Teil schon ausgestorbenen, nicht mehr existierenden) Arten darstellen, die ihre gemeinsame Wurzel in Antitypen, also Urtypen, haben müssen — eine Interpretation, die allgemein Darwin zugeschrieben wird, der diese Darstellung später in Origin of Species (1859) visualisieren wird.
ReaktionenDer Text wurde im September 1855 in den Annals and Magazine of Natural History gedruckt. Das Echo war gering, jedoch zeigte sich Charles Darwin in einem Brief beeindruckt und merkte an, dass auch ihn dieses Thema beschäftige:
Das Ternate-EssayIm Januar 1858 erreichte Alfred Russel Wallace, der seit Monaten unter Fieber litt, die Molukken, wo er seinen Essay On the Tendency of Varieties to depart indefinitely from the Original Type formulierte.[12] InhaltUnter Naturforschern des 19. Jahrhunderts war allgemein anerkannt, dass es innerhalb der Arten varieties, Variationen, gibt, die Einfluss auf das Leben der Individuen hatten — schließlich machten genau diese kleinen Unterschiede zwischen den Individuen die Haustierzucht möglich. Auch Wallace war auf seinen Reisen immer wieder geographische Variationen aufgefallen, die gekennzeichnet waren durch kleine Unterschiede in Färbung und Körperbau. Ohne dass diese Eigenschaften der Tiere bedeutend genug waren, um sie als eigene Art zu kennzeichnen. Wallace vermutete nun, dass species, also Arten, nichts anderes als varieties seien, die sich weit genug vom original type, der ursprünglichen Form, entfernt hatten, um als neue, stabile und eigenständige Art zu gelten. Doch wie wurde das Zusammenspiel dieser ständigen graduellen Variationen, sowohl zwischen den Individuen als auch zwischen den Arten geregelt und stabilisiert, so dass der Eindruck einer nahezu konstanten Artenvielfalt entstehen konnte? Und doch so dynamisch und divergent, dass sich aus diesen Variationen immer neue Arten bildeten? Da sich Populationen in der Natur im geometrischen Verhältnis fortpflanzen (d.h. mit im statistischen Mittel konstanter Zahl von Nachkommen pro Individuum oder Elternpaar), müssten in kürzester Zeit gigantische Populationen entstehen. Wallace beschrieb am Beispiel von Vögeln, die zwei bis zehn Nachkommen pro Jahr zeugen, dass sich ein einzelnes Pärchen innerhalb von nur wenigen Jahren millionenfach vermehren würde. Da uns jedoch die Zahl der existierenden Tiere nahezu konstant erscheint, muss es einen Regelmechanismus geben, der die Natur im Gleichgewicht hält. Im Februar 1858 kam ihm die entscheidende Idee. Inspiriert durch Texte von Thomas Robert Malthus und Robert Chambers beschrieb Wallace das Leben der wilden Tiere und auch das Bestehen ganzer Arten in der Natur als struggle for existence. Evolutionsbiologen sollten dies später als das Prinzip der Selektion bezeichnen.
Dieses Prinzip sorge „ganz nebenbei“ für die Anpassung, die Adaption, der Arten an ihre Umwelt. Es regle die Balance zwischen den Individuen einer Art sowie die Verbreitung der Arten:
Diese Prinzip des Gleichgewichts in der Natur verglich Wallace mit einem Zentrifugalregler einer Dampfmaschine, der Unregelmäßigkeiten ausgleicht kurz bevor sie sichtbar werden: centrifugal governor of the steam engine, which checks and corrects any irregularities almost before they become evident. Das Prinzip geht weit über das hinaus, was Darwin ein Jahr später in seiner Theorie beschreiben sollte — ein vergleichbarer Mechanismus, der die Artenvielfalt kontinuierlich ausbalanciert, fehlt in Darwins Darstellung der Evolutionstheorie. Das Prinzip der divergenten graduellen Variation, der Veränderung von existierenden Arten in winzigen, ungerichteten Schritten weg von ihrem Ursprung, dem original type, wird also durch ein natürliches System von checks and balances geregelt. Es erkläre, so glaubte Wallace, die Entstehung und scheinbare Konstanz der Artenvielfalt, so wie wir sie erleben:
Am 1. März 1858 verfasste Wallace das Begleitschreiben zu seinem Manuskript und sandte den Brief an Charles Darwin mit der Bitte, sein Manuskript, falls er die Ausführungen für sinnvoll hielte, an Charles Lyell weiterzuleiten. Das Postschiff legte am 9. März in Ternate ab mit diesem Brief und einem Schreiben an den Bruder seines alten Reisegefährten Bates.[13] ReaktionenDarwin sandte den Aufsatz an Lyell mit der Bemerkung: „I never saw a more striking coincidence; if Wallace had my MS. sketch written out in 1842, he could not have made a better short abstract! Even his terms now stand as heads of my chapters.“[14] Wenige Tage später schrieb Darwin erneut an Lyell mit der Bitte um Rat: „But as I had not intended to publish any sketch, can I do so honourably, because Wallace has sent me an outline of his doctrine? I would far rather burn my whole book, than that he or any other man should think that I had behaved in a paltry spirit. Do you not think his having sent me this sketch ties my hands?“[15] So kam es zum „Delicate Arrangement“. Entsprechend dem Rat von Charles Lyell und Joseph Dalton Hooker erstellte Darwin einen Auszug aus seinem Manuskript, das er ab 1839 entworfen hatte, und von dem er Hooker 1844 eine Kopie zu lesen gegeben hatte. Gemeinsam mit der Zusammenfassung eines Briefes an Asa Gray aus dem Jahr 1857, mit dem er zeigen wollte, dass sich seine Ansichten seit 1839 nicht geändert hatten, und mit dem Aufsatz von Wallace wurde dieser Auszug am 1. Juli 1858 in den Sitzungen der Linnean Society vorgetragen, und dann im Journal of the Proceedings of the Linnean Society abgedruckt.[16] 1859 erschien Darwins On the Origin of Species. Der Verlag hatte schon am ersten Tag die gesamte Auflage von 1250 Stück an die Buchhändler verkauft. Wallace bekam von Darwin ein Exemplar zugesandt, es erreichte ihn im Jahr 1860. Erst zwei Jahre später kehrte er aus dem Malayischen Archipel nach London zurück und traf Darwin.[17] Darwin leitete sein Buch On the Origins of Species, wenn auch erst in späteren Auflagen, mit einem geschichtlichen Überblick ein, in dem er die wichtigsten Quellen angab, aus welchen er Anregungen zu seinen Ideen erhalten hat. Dort findet sich, recht zurückhaltend formuliert, der Hinweis auf Wallace's Essay: „the theory of Natural Selection is promulgated by Mr. Wallace with admirable force and clearness“.[18] Unklar bleibt wie sehr Darwin von Wallace's Arbeit profitiert hat. Der Historiker John Langdon Brooks etwa versucht zu belegen, dass Darwin einen 41 Seiten langen Einschub zum Divergenzprinzip, geschrieben auf andersfarbigem Papier, erst nach der Lektüre des Ternate-Essays eingefügt hat — und ihm eben dieses letzte Puzzlestück noch in seiner Theorie fehlte. Peter J. Bowler argumentiert im Gegenzug, dass Wallace erst durch seinen Briefwechsel mit Darwin die Prinzipien von Variation und Selektion verstehen konnte — und dass das Ternate-Essay Darwin lediglich zur Veröffentlichung der Ergebnisse seiner Arbeit der letzten 20 Jahre zwang.[19] Der DarwinistAlfred Russel Wallace bezeichnete sich zeitlebens als energischsten Verfechter des Darwinismus, gleichzeitig war er einer der einflussreichsten Kritiker unter den ersten Darwinisten. Ihm widerstrebte besonders der Begriff Selection für den Prozess des struggle for existence, da die Metapher der „Selektion“ eine handelnde Autorität impliziere. Er schlug vor, einen Begriff von Herbert Spencer zu übernehmen: survival of the fittest, das dem Überleben des an seine Umwelt Bestangepassten. Darwin verwendete diesen Begriff dann auch ab der 6. Auflage des Origin of Species:
Ein bemerkenswerter Unterschied in den Konzeptionen von Darwin und Wallace liegt in ihrer Herleitung: während Darwin seine Modelle für domesticated animals, also gezüchtete Haustiere entwarf, und dann mit der Analogie zur freien Natur argumentierte, zog Alfred Russel Wallace seine Schlüsse direkt aus den Beobachtungen der Natur. Damit ist er „more Darwinian than Darwin himself“.[20] Auf seinen Vortragsreisen in Nordamerika und in der Schweiz propagierte er die Ideen der Evolutionstheorie. Darwin und Wallace blieben zeitlebens in Briefkontakt. Bei Charles Darwins Begräbnis am 26. April 1882 war Wallace einer der Sargträger. Wallace erhob nie den Anspruch auf Vorrang an der Evolutionstheorie.[21] Sein 1869 erschienenes Buch The Malay Archipelago beginnt mit der Widmung
Darwin betonte stets die Hochherzigkeit von Wallace. Die Details der Vorgänge im Jahr 1858 erfuhr Wallace erst aus Darwins Autobiographie. Sieben Jahre nach Darwins Tod, 1891, erschien Wallace' Version des Origin of Species, er nannte sein Buch Darwinism. Ohne Darwins Einfluss wäre der Aufstieg des unbekannten Naturforschers in die elitären wissenschaftlichen Zirkel des viktorianischen Englands wohl kaum möglich gewesen.[22] Der LandreformerDie von Wallace in seinem Buch The Malay Archipelago eingestreuten politischen Kommentare machten John Stuart Mill auf ihn aufmerksam, der ihn in die Land Tenure Reform Association einlud. Bis zur Begründung der Land Nationalisation Society 1880 blieb er Mitglied dieser Gesellschaft. Er begann sein in zehn Auflagen gedrucktes Buch Land Nationalisation (1892) mit einem Zitat von James Anthony Froude und machte diese Position zur Grundlage seiner späteren sozialphilosophischen Arbeiten:
Über 30 Jahre war Alfred Russel Wallace Präsident der Land Nationalisation Society, als einer der energischsten Fürsprecher für Landreformen in England und Irland.[23] Der SpiritualistAb 1864, etwa zeitgleich mit der Bekanntschaft mit seiner späteren Ehefrau Annie Mitten, änderte sich sein Weltbild: war es zuvor rein materialistisch so wandelte es sich nun zu einem religiös-spirituellen. In einem Brief schrieb er später:
Dass hier der Begründer des Darwinismus eine religiöse, ja geradezu kreationistische Position einnahm, ließ seine Arbeiten im folgenden 20. Jahrhundert manchem Biologen und Biographen suspekt erscheinen. Einige sprechen ihm deshalb sogar jegliches Verständnis von Evolution und geographischer Variation ab. Doch für Wallace stellten Naturwissenschaft und Religion keinen Widerspruch dar.[24] Er nahm an den zu dieser Zeit sehr populären Séancen teil, und erklärte in seinen Schriften, dass auch und gerade „übernatürliche“, scheinbar unerklärbare Phänomene einer ernsthaften wissenschaftlichen Beschreibung und Untersuchung bedürfen. Seine Kollegen, die sehr viel tiefer als er in der akademischen Gesellschaft des viktorianischen England verwurzelt waren, mochten ihm dabei nicht folgen. Dennoch stellte er seine Ansichten unbeeindruckt in Artikeln und Büchern dar.[25] SozialdarwinismusDas Prinzip der Selektion, des struggle for existence, wurde sowohl von Darwin als auch von Wallace aus den Thesen in Thomas Robert Malthus ökonomischem Essay on the Principle of Population abgeleitet, wenn nicht gar übernommen. Dazu kam bei Darwin wie bei Wallace die Annahme einer kontinuierlichen, graduellen Entwicklung durch ungerichtete Variation. Wer könnte bezweifeln, dass auch dieses Prinzip für menschliche Gesellschaften seine Gültigkeit hat? Dass menschliche Individuen sich unterscheiden, auch wenn sie unzweifelhaft derselben Art angehören? Nachdem Wallace im Verlauf der 1860er Jahre einige Aufsätze zum Thema der Evolution des Menschen veröffentlicht hatte (beginnend mit The Origin of Human Races and the Antiquity of Man, 1864), erschien 1871 Descent of Man von Charles Darwin. Beide, Darwin und Wallace, glaubten grundsätzlich an die Wirksamkeit evolutionärer Prinzipien in humanen sozialen Systemen: Ideen des Sozialdarwinismus waren in den intellektuellen Kreisen des späten 19. Jahrhunderts weit verbreitet. In Opposition zu Lamarckisten wie Herbert Spencer, Francis Galton und Charles Darwin (sic!) lehnte Wallace jedoch die Erblichkeit von Charakter und Talent strikt ab. Er argumentierte, dass sich Eigenschaften wie etwa Genie sprunghaft, und nicht kontinuierlich durch graduelle Variation entwickelten, und deshalb nicht mit der Evolutionstheorie beschrieben werden könnten. Sie benötigten vielmehr eine eigene Theorie:
In Opposition zu Galton, Spencer und Darwin, die bedauerten, „that in our modern civilisation natural selection had no play“, dass in der modernen Zivilisation die natürliche Selektion keine Rolle spiele[26] — und den Menschen nahezu als domesticated animal begriffen, als Haustier, das seine Zuchtauswahl selbst in die Hand genommen habe —, wandte sich Wallace energisch gegen eugenische Konzepte. Er wurde, hier in einem Interview als 90jähriger, geradezu wütend, wenn seine Theorien als Grundlage für solche Entwürfe zitiert wurden:
Auch Wallace's sozialistische Gesellschaftsutopie enthielt das Prinzip der Selektion, jedoch nicht durch eine „scientific priestcraft“, eine elitäre „wissenschaftliche Priesterschaft“, sondern durch die freie Wahl der Ehemänner durch ihre Frauen, frei von wirtschaftlichen Zwängen.[27] Kurz vor seinem Tod beschrieb er diese Vision in seinem Buch Social Environment and Moral Progress (1913)[24]. Geradezu prophetisch schienen seine Warnungen vor jeder Art von elitären eugenischen Systemen:
Er wünschte sich eine Gesellschaft, in der Land und materielles Vermögen nicht vererbt werden kann, in dem jeder die gleichen Chancen und Startbedingungen hat, am struggle towards freedom teilzunehmen.[28] Der Sozialphilosoph und SozialistSchon früh setzte sich Wallace mit dem frühen englischen Sozialisten und Sozialreformer Robert Owen auseinander, dessen Vorträge er erstmals 1837 in London hörte.[29] Gegenüber seinem Freund James Marchant stellte er seinen politischen Standpunkt später wie folgt dar:
Im Fazit seines Essay True Individualism — The Essential Preliminary of a Real Social Advance schreibt er über seinen Traum eines gerechten Gesellschaftssystems, das jedem Mitglied das gleiche Recht auf einen guten Start ins Leben und eine bestmögliche Bildung zugesteht — eine Gesellschaft, die ohne ein Wettrennen um Wohlstand und Luxus auskommt:
Neben seinen Aufsätzen beschreiben wohl die im letzten Lebensjahr, 1913, entstandenen Werke The Revolt of Democracy [28] und Social Environment and Moral Progress [29] seinen Standpunkt am deutlichsten. Kampagnen wider der ImpfprogrammeWallace engagierte sich gegen das Impfprogramm, die Impfpflicht zur Eindämmung der Pocken. In Aufsätzen und im 1889 erschienenen Buch Vaccination a Delusion versuchte er, statistisch nachzuweisen, dass Impfprogramme nach anfänglichen Erfolgen in den ersten Jahrzehnten im ausgehenden 19. Jahrhundert der öffentlichen Gesundheit eher schadeten als nutzten. Wallace glaubte nicht an die Möglichkeit einer weltweiten Ausrottung des Pockenvirus. Erst 1980, 91 Jahre später, konnte die WHO den Sieg über das Pockenvirus melden. Seitdem gilt es als ausgestorben.[30] NachlebenAlfred Russel Wallace hat sich gerade mit seinen politischen und religiösen Schriften angreifbar gemacht. So wie er in frühen Veröffentlichungen prägnant und mit analytischer Schärfe seine Beobachtungen interpretierte, so leidenschaftlich propagierte er auch seine religiösen und politischen Ansichten. Er polarisierte Zeitgenossen und Biographen. Im wissenschaftlichen Diskurs hat sich im späten 19. und 20. Jahrhundert zumeist Darwins Modell der biologischen und sozialen Evolution durchgesetzt, die Wallace-spezifischen Aspekte der dynamischen Balance zwischen den Arten, der Diversifikation der Arten gerieten lange in den Hintergrund. EhrungenAlfred Russel Wallace wurde nie Mitglied der etablierten intellektuellen Elite des viktorianischen England; zu unorthodox und unangepasst waren seine Ansichten. Nichtsdestoweniger erhielt er schon zu Lebenszeiten viele Auszeichnungen und Titel, unter anderem:
Auf Mond und Mars sind Krater nach ihm benannt. Die Trennlinie zwischen den biogeographischen Gebieten Australiens und Südostasiens trägt ihm zu Ehren den Namen Wallace-Linie. Darüber hinaus sind zahlreiche Organismen nach ihm benannt, wie der Wallace-Paradiesvogel (Semioptera wallacii). BibliographieAlfred Russel Wallace veröffentlichte Artikel, Essays und Bücher. Der Übersichtlichkeit halber werden hier nur die Bücher aufgelistet. Viele seiner Texte sind beim Gutenberg Projekt und auf der Alfred Russel Wallace Neztseite verfügbar [30]. Werke
Eine Liste aller veröffentlichten Artikel und Aufsätze findet sich bei James Marchant: Alfred Russel Wallace. Letters and Reminiscences, Vol. II, ab Seite 258, online [32]. Sekundärliteratur und Biographien
Siehe auch
Anmerkungen und Quellennachweis
Kategorien: Biologe | Evolutionsbiologe |
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